25.10.2011
Artikel erschienen in: Wissenschaft + Frieden
4/2011
Komplexes Gemisch:
Die westlichen Mächte und der Libyen-Krieg
von Uli Cremer
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mit Fußnoten
September 2011 ist der Libyen-Krieg militärisch entschieden.
Mit Hilfe der NATO-Luftwaffe und westlicher Elitesoldaten
am Boden wurde das Gaddafi-Regime gestürzt. Aber warum
kam es zu diesem Kriegseinsatz? Und welche Motive gab es auf
deutscher Seite nicht mit zu machen?
An sich stand ein Sturz Gaddafis Ende 2010 nicht auf der
Agenda. Nach seiner “Abkehr vom Terrorismus” war
er von der “Achse der Bösen” gestrichen worden.
Sein Land lieferte zuverlässig Öl zu Weltmarktpreisen,
die Erlöse wurden zum Großteil in den Kapitalstandorten
Europas und den USA investiert und Armutsflüchtlinge
aus Afrika von der Mittelmeerküste fern gehalten. Die
Kooperation mit Geheimdiensten, insbesondere mit denen der
USA und Britanniens, lief wie am Schnürchen, zumal die
libyschen Folterkeller auch für westliche Aufträge
zur Verfügung standen. Trotz seiner „Resozialisierung“
war Gaddafi aber nicht Freund, sondern nur temporärer
Stabilitätspartner. Vollständig hatte er sich trotz
anti-islamistischer Ausrichtung nie dem Westen angedient.
Er unterhielt parallel stets gute Beziehungen nach Russland
und China; offenbar wollte er diese sogar weiter ausbauen.
Selbstverständlich konnten sich die westlichen Mächte
noch besseren Zugang nach Libyen vorstellen, aber solch ein
Wunsch ist nun wirklich kein ausreichender Grund für
eine Militärintervention.
Doch nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten wurden
auch in Libyen die Karten neu gemischt.
Die internationale Sanktionspolitik
Da die Aufständischen den Bürgerkrieg nicht aus
eigener Kraft gewinnen konnten, unterstützte der Westen
die Gegenregierung auf allen Ebenen. Da war erst einmal die
internationale Sanktionspolitik. Der Ende März wegen
Insubordination im Eilverfahren abberufene russische Botschafter
in Libyen, Wladimir Tschamow, prognostizierte am 23.3.2011,
dass sich das Regime Gaddafi noch „drei-vier Monate“
halten könne: „Genau so lange, wie die Lebensmittelvorräte
reichen. Gegenwärtig sind alle Lieferungen aus der Luft
und vom Meer blockiert.“ 4 Monate – das wäre
Ende Juli gewesen. Er hat sich offenbar nur um wenige Wochen
verschätzt.
Die Kriegsführung des Gaddafi-Regimes wurde durch das
von der UN verhängte Waffenembargo und durch die Unterbindung
des Treibstoffnachschubs getroffen. Ein direktes Erdölexportembargo
gegen Libyen wurde nie verhängt, nicht einmal durch die
EU. Offenbar waren die Widerstände der Empfängerländer
zu groß. Auf ein solches Embargo gegen Syrien hat sich
die EU erst Anfang September 2011 geeinigt, nachdem das Assad-Regime
bereits monatelang Demonstrationen und Proteste zusammenschoss.
Kabarettistische Fußnote dabei: „Italien bestand
darauf, dass bestehende Lieferverträge noch bis Mitte
November erfüllt werden dürften.“
De facto konnte das Gaddafi-Regime seit Ende März kein
Erdöl oder Erdgas mehr exportieren. Es war zwar niemandem
verboten, das Öl oder Gas entgegen zu nehmen, allerdings
konnte dies technisch nicht mehr geschehen, da die libyschen
Häfen von der NATO überwacht wurden und die einzige
existierende Pipeline nach Italien, also in ein EU-Land, führte
(Annahme dabei: Italien hat das Embargo befolgt). Außerdem
brachte der Krieg die Förderung zum Erliegen. Parallel
wurde das Gaddafi-Regime finanziell ausgetrocknet, da nicht
nur die Konten der Herrscher-Familie, sondern auch die der
wichtigsten libyschen Banken und Firmen in EU und USA eingefroren
wurden. Der UN-Sicherheitsrat hatte nur Sanktionen gegen einzelne
Personen verhängt, so dass es z.B. China, Indien, Russland
oder anderen Ländern theoretisch frei stand, weiter mit
Libyen Handel zu treiben. Vor diesem Hintergrund sah Außenminister
Westerwelle den Sturz Gaddafis auch als Erfolg seines Politikansatzes
an: „… wir haben auf die internationale Isolierung
gesetzt, auf vor allen Dingen die politischen und wirtschaftlichen
Sanktionen, und diese Sanktionspolitik war augenscheinlich
erfolgreich, denn sie hat das Regime Gaddafi nicht nur isoliert,
sondern ihm auch die Nachschubmöglichkeiten abgeschnitten.“
Auf die militärische Karte setzten dagegen Frankreich,
Britannien und die USA. Und der NATO-Kriegseinsatz war massiv:
In knapp 6 Monaten (bis 10.9.2011) flog die NATO 22.116 Einsätze,
darunter 8.296 echte Kampfeinsätze. Zum Vergleich: im
1.Halbjahr 2010 wurden in Afghanistan nicht einmal 15.000
Einsätze geflogen!
Nach dem Krieg beginnt in Libyen die nächste Phase:
der „Wirtschaftskrieg um Aufträge der neuen libyschen
Verantwortlichen“ . Und damit sind wir mitten in der
Diskussion angekommen, warum Frankreich, Britannien und die
USA den Regime Change in Libyen forcierten und durchsetzten.
Menschenrechte und Krieg
Offiziell ging es wie bei jedem Krieg um eine gerechte Sache,
einen Robin-Hood-Einsatz quasi. Die Flugverbotszone wurde
vom UN-Sicherheitsrat nicht verhängt, um z.B. das Gewicht
Frankreichs oder Britanniens in der Welt zu stärken oder
dem französischen Mineralölkonzern Total gute Geschäfte
zu ermöglichen, sondern um die libysche Zivilbevölkerung
zu schützen. Da aber bereits im Februar 2011 ein bewaffneter
Aufstand gegen das Gaddafi-Regime begann, waren die Grenzen
zwischen Zivilbevölkerung und Bewaffneten schon zum Zeitpunkt
der UN-Resolution recht verschwommen. Der angegebene Kriegsgrund
(„humanitäre Intervention“) ist insofern
zweifelhaft. Der Hamburger Prof. Reinhard Merkel dazu: „Dass
Gaddafis Truppen gezielt Zivilisten töteten, ist vielfach
behauptet, aber nirgends glaubhaft belegt worden.“ Auch
US-Professor Alan J. Kuperman stellte im Boston Globe sogar
das Basisargument, es habe ein Massaker an Zivilisten in Bengasi
gedroht, in Frage: „Nor did Khadafy ever threaten civilian
massacre in Benghazi, as Obama alleged. The ’no mercy’
warning, of March 17, targeted rebels only, as reported by
The New York Times, which noted that Libya’s leader
promised amnesty for those ‘who throw their weapons
away.’ Khadafy even offered the rebels an escape route
and open border to Egypt, to avoid a fight ‘to the bitter
end.’”
Jeder weiß, dass das Libyen Gaddafis kein Hort von
Freiheit, Demokratie und Menschenrechten war, aber das ist
Bahrein auch nicht. Wenn die Menschenrechte den westlichen
Staaten tatsächlich so wichtig wären, wie im Falle
Libyen behauptet, hätten in 2011 weitere Kriege begonnen
werden müssen. Angriffe auf Syrien, Saudi-Arabien, Jemen
und Bahrein wären das Mindeste gewesen. Stattdessen ließ
der Westen in Bahrein sogar eine Intervention des Golf-Kooperationsrats
zu, um die Opposition niederzuhalten. Demonstrativ empfing
der britische Premier Cameron am 20.Mai 2011 den Kronprinzen
von Bahrein, der anders als Gaddafi nicht in Den Haag angeklagt
ist. Auch die in Bahrein stationierten US-Truppen rührten
keinen Finger, um den Menschenrechten dort zum Durchbruch
zu verhelfen.
Warum wurde also die libysche Opposition gegen das Gaddafi-Regime
2011 derart unterstützt und das Regime schließlich
beseitigt?
Interessenlage Frankreichs und Britanniens
Hauptakteur im westlichen Lager war die französische
Regierung. Staatspräsident Sarkozy wertete den Krieg
Ende August 2011 so aus: „… anders als auf dem
Balkan habe sich Europa dank französisch-britischer Führung
in die Lage versetzt, aus eigener Initiative in einen Konflikt
in seinem Einflussbereich einzugreifen. Das rechtfertige die
vielkritisierte Rückkehr Frankreichs in die integrierten
Strukturen der Nato.“
Im Zusammenhang mit dem Georgien-Krieg 2009 wurde von westlichen
Politikern wie dem ehemaligen polnischen Staatspräsidenten,
Aleksander Kwasniewski doziert, dass „der Prozess der
euro-atlantischen Integration... das Europa der Machtpolitik
und Einflusszonen großer Mächte, die das Schicksal
kleiner Länder mit einem Federstrich bestimmen“
überwunden sei. Er forderte: „Kein Zurück
zu einem Europa der Einflusszonen.“
Was für Europa und Russland gilt, gilt offenbar nicht
für Afrika bzw. das Mittelmeer und NATO-Hauptmächte.
Folgt man dem früheren Staatssekretär im Verteidigungsministerium,
Lothar Rühl, liegt „das amerikanische Interesse
im Osten des Mittelmeeres…, wie auch das vorsichtige
Engagement in Libyen gezeigt hat“ – also: „Israel,
Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien samt der ganzen arabischen
Golfküste und der … Irak sind (für Washington,
UC) die Partner oder Klienten, die mit Vorrang geschützt
und im Innern stabilisiert werden müssen, wenn die vitalen
westlichen Interessen an Sicherheit in der Region und ihrer
Energiequellen gefördert werden sollen“. Daraus
folgt: „das westliche Mittelmeer ist Europas Verantwortungsbereich.“
Oder in Sarkozys Worten: „Einflusszone“.
Frankreich müsse sich erinnern, “dass es eine
Macht im Mittelmeerraum ist”, so Präsident Sarkozy
2007 bei der Begründung seines Projekt einer “Mittelmeer-Union”.
“Dem wachsenden Einfluss der nord- und osteuropäischen
Länder sollte ein südlicher Schwerpunkt entgegengesetzt
werden, mit Frankreich als Führungsmacht,” analysierte
die FAZ . Solch ein Angriff auf die deutsche Machtposition
in der EU würde “den Zerfall Europas provozieren”
war die harsche Reaktion der deutschen Kanzlerin . Aus der
Mittelmeer-Union wurde ein Projekt der EU: “Merkel bremst
Sarkozy bei Mittelmeerunion aus” . Immerhin wurde Sarkozy
Ko-Präsident der EU-Mittelmeer-Union, der andere Ko-Präsident
hieß Mubarak. Nach dessen Sturz war das Projekt am Ende.
Die Rebellion in Libyen war ein willkommener Anlass, den französischen
Führungsanspruch im Mittelmeerraum erneut anzumelden:
„Die Zeit ist gekommen, um die Mittelmeer-Union wiederzubeleben
und neu aufzubauen und in den kommenden Wochen wird Frankreich
diesbezüglich seinen Partnern seine Vorschläge vorlegen.“
Im Rahmen der G-8-Staaten war bereits im Mai 2011 die sogenannte
Deauville-Partnerschaft aus der Taufe gehoben worden, die
bisher nur die Länder Tunesien, Ägypten, Marokko,
Tunesien und Libyen einbindet. Ein „im Fokus stehendes
Element“ dabei: „Sta¨rkung des Wachstums durch
intensivere Einbindung der Region in die Weltwirtschaft. Die
G8 hat ihre Unterstu¨tzung fu¨r einen Ausbau von Handel
und Investitionen durch mehr Markto¨ffnung und fu¨r
einen Prozess zunehmender regionaler Integration angeboten.“
An der Spitze der Organisation steht der Franzose Balladur.
In Deutschland wurde der erneute französische Führungsanspruch
registriert: “Dieser Waffengang dient ihm (Sarkozy,
UC) dazu, den Anspruch auf die Führungsrolle Frankreichs
in Europa deutlich zu untermauern. Dafür setzt er auch
militärische Macht ein. ”
Zwar konnte Frankreich die libysche Gegenregierung im Alleingang
politisch anerkennen, genau wie Deutschland es 1991 mit Kroatien
und Slowenien vorgemacht hatte. Allerdings war Frankreich
militärisch nicht in der Lage, den Krieg allein zu führen.
Also wurde Britannien ins Boot geholt. Beide Staaten hatten
im November 2010 verabredet, „sicherheitspolitisch aufs
engste zu kooperieren.“ Verschiedene Maßnahmen
wurden beschlossen, vom Aufbau einer gemeinsamen Eingreiftruppe
bis zur Entwicklung neuer Waffensysteme wird Frankreich in
Zukunft mit Britannien und weniger mit Deutschland kooperieren.
Der militärische Schulterschluss mit London ist im Grunde
eine Beerdigung der bisherigen eigenständigen EU-Militärpolitik,
die auch von Berlin stets forciert worden war. Deutschland,
so das SWP-Papier, „sah sich außerstande, einem
trilateralen Handeln in der Rüstungskooperation zuzustimmen.“
Denn in diesem Gremium hätte sich Deutschland den militärisch
stärkeren Partnern unterordnen müssen. Der französische
Außenminister Juppé räumt sehr offen ein:
„Es stimmt, auf dem militärischen Gebiet haben
wir Unterschiede in der Einschätzung.“ Im EU-Zusammenhang
hat Deutschland dagegen eine ganz andere Stellung, die insbesondere
im Umgang mit der Euro-Krise deutlich wird: In einem Beitrag
der Zeitschrift „Internationale Politik“ erklärte
Andreas Rinke Merkel zur „EU-Kanzlerin“: „In
der erweiterten EU mögen viele murren über die deutschen
Wünsche bei der Stabilisierung des Euro. Aber Merkel
hat nun eine Art ‚Richtlinienkompetenz‘ im Kreis
der 27 Staats- und Regierungschefs bekommen.“ Zugespitzt:
Paris brauchte einen (natürlich erfolgreichen) Militäreinsatz,
um die deutsche Führungsanspruch im ökonomischen
Bereich auszubalancieren. Da kam der Libyen-Konflikt wie gerufen.
Wie die französische war die britische Position in der
arabischen Welt durch die Teilnahme am Irak-Krieg und die
Parteinahme für die Unterdrückerregimes in Tunis
und Kairo erodiert. Auch für Britannien versprach die
Initiierung des Krieges Einflussgewinne. Nach dem Sieg betonte
der britische Premierminister Cameron einen weiteren Aspekt:
Britannien „werde in militärischer Hinsicht ein
‚vollwertiger Mitspieler‘ bleiben, trotz der beschlossenen
Kürzungen im britischen Verteidigungsetat.“ Tatsächlich
ist der britische Militärhaushalt von 2011 gegenüber
2010 um 2,5% gestiegen und für 2012 wird eine weitere
Erhöhung um 1,8% ins Auge gefasst. Die Kosten für
die konkreten Kriegseinsätze sind darin noch nicht einmal
enthalten . Der britische Militäreinsatz in Libyen hatte
insofern die Kollateralfunktion, Einsparungen in diesem britischen
„Kompetenzbereich“ zu verhindern.
USA, Dein Freund und Helfer
Da Frankreich und Britannien nur „ersatz pocket superpowers“
sind, konnte nur die Teilnahme der führenden Militärmacht
der Welt, der USA, militärischen Erfolg ermöglichen.
Zusammen repräsentieren die drei Staaten 85% der NATO-Militärmacht.
Frankreich versuchte deshalb nicht, die USA herauszuhalten.
Die Sarkozy-Ära ist gerade durch eine stärkere transatlantische
Ausrichtung gekennzeichnet, in die der Schulterschluss mit
London eingebettet ist. Durch diese Positionsveränderung
hat Frankreich laut Sarkozy „seinen Handlungsspielraum
und sein Einflussvermögen sowohl innerhalb als auch außerhalb
seiner Familie gestärkt.“
Nachdem sich in Washington Mitte März die Kriegsbefürworter
um Außenministerin Clinton durchgesetzt hatten, stand
das Kriegsbündnis. Gleichzeitig gerieten die Aktivitäten
unter die Kontrolle Washingtons, das auf Kriegsführung
unter dem Dach der NATO bestand. Doch welchen Nutzen haben
die USA von dem Krieg?
1. Die Stärkung der NATO durch bessere Einbindung
Frankreichs und damit ein Zurückdrängen der Fantasien,
die EU als eigenständigen Militärpakt aufzubauen.
Einmal mehr ist bewiesen, dass die EU-Staaten ohne US-Unterstützung
nicht militärisch agieren können. Das könnte
diese motivieren, mehr Geld fürs Militärs auszugeben,
so dass bei gemeinsamen Kriegen eine für Washington
günstigere Lastenteilung möglich würde –
ohne dass Washington die Kontrolle verlöre. Vielleicht
ist zusätzlich noch ein Preis in Form eines US-Militärstützpunkts
in Libyen zu entrichten
2. Ein Image-Gewinn in der arabischen Welt.
3. Die Zurückdrängung des chinesischen Einflusses
in Libyen / Afrika.
4. Ein verbesserter Marktzugang für US-Energiekonzerne,
die bisher in Libyen nur eine geringe Rolle spielen.
Rolf Clement, Sicherheitsexperte des Deutschlandfunks, analysiert:
„Alle drei Hauptakteure im Libyen-Krieg haben Interessen
bedient, bei denen Libyen nur das Mittel zum Zweck ist…”
Mit anderen Worten wurde nicht primär um Öl, die
libyschen Wasservorräte oder Menschenrechte gekämpft,
sondern für “höhere Ziele”, die eigene
Position im „Zeitalter der relativen Mächte“
im Kampf um “ein neues Gleichgewicht der Kräfte”,
so die Worte des französischen Präsidenten Sarkozy.
Im UN-Sicherheitsrat konnten die kriegsbereiten Mächte
keinen Beschluss für einen Regime Change in Tripolis
durchsetzen. Die Resolution war insofern keine Carte Blanche,
aber eine unerlässliche Basislegitimation für das
geplante militärische Vorgehen. Wolfgang Ischinger, Chef
der Münchener Sicherheitskonferenz, wies auf die „gewaltige
strategisch-konzeptionelle Lücke” hin, die „zwischen
der politischen Zielsetzung einerseits („Gaddafi muss
weg“) und dem restriktiven Mandat des UN-Sicherheitsrats
zum Schutz der Zivilbevölkerung andererseits klafft”
und warnte: „In Washington – und noch mehr in
Moskau und Peking – warten manche nur darauf, dass das
europäische Häuflein in Libyen eine militärisch-politische
Bauchlandung produziert .”
Die deutsche Kriegsdienstverweigerung
Auch in Berlin wurde gewartet. Deutschland mochte der Demonstration
französisch-britischer Führungsmacht keine Anerkennung
zollen. „Ich kann als deutscher Außenminister
nicht deutsche Soldaten nach Libyen schicken, weil es andere
tun“, erklärte Westerwelle die deutsche Nichtbeteiligung
vor dem EU-Außenministerrat . Sein Minister-Kollege
Niebel wies darauf hin, dass Deutschland bei einer Zustimmung
im Sicherheitsrat in der Pflicht gestanden hätte, sich
am Einsatz zu beteiligen, politisch wie militärisch-technisch:
„Neben den USA hat allein die Bundesluftwaffe mit ihren
ECR-Tornados die militärischen Fähigkeiten, die
Flugverbotszone durchzusetzen und die Flugabwehr auszuschalten.“
Mit anderen Worten: Deutschland hätte militärisch
durchaus einen substantiellen Beitrag leisten können,
wollte dies aber nicht.
Vor diesem Hintergrund löste die Enthaltung Deutschlands
Irritation und Ärger aus. Natürlich war die Bundesregierung
wochenlang davon ausgegangen, dass auch die US-Regierung sich
gegen den Militärkurs stellen würde, und wurde kurzfristig
von dem politischen Schwenk überrascht. Warum trotzdem
die Enthaltung? Niebel formulierte im März 2011 zwei
Kritikpunkte am militärischen Vorgehen:
1. „Die Geschichte zeigt, dass Flugverbotszonen
keine Massaker verhindern.“ Zwar kam es in Benghasi
zu keinem Massaker, aber dem Gaddafi-Regime wird heute vorgeworfen,
zehntausende Regimegegner ermordet zu haben. Der Bürgerkrieg
soll zwischen 30.000 und 50.000 Opfer gefordert haben .
Zehntausende Regimegegner sollen erst interniert, dann ermordet
worden sein. Insofern kann sich Niebel bestätigt sehen.
2. „Man sollte wissen, wie man ein militärisches
Engagement wieder beendet, bevor man es beginnt.“
Berlin glaubte offensichtlich, dass der Libyen-Krieg in
einem ähnlichen Desaster wie der Regime Change im Irak
enden würde. Und solch ein Desaster gönnte man
den Kollegen in Paris und London von Herzen.
Allerdings sind beide Kriegsschauplätze nicht vergleichbar.
Insbesondere rekrutierten sich viele libysche Rebellenführer
aus der Gaddafi-Führung. Der fließende Seitenwechsel
zur anderen Bürgerkriegspartei wurde von Spiegel Online
am 25.8.2011 mit der satirischen „Eilmeldung“
auf die Spitze getrieben, Gaddafi selbst sei nun auch zu den
Rebellen übergelaufen. Ein Seitenwechsel, der interessanterweise
schon 2010 begann, als sich der damalige Protokollchef Gaddafis,
Al Mismari, nach Paris absetzte. Insofern ist in Libyen –
auch ohne politische Verständigung - die andere Konfliktseite
ein Stück weit eingebunden, während im Irak alle
Mitglieder der alten Herrschaft vom Neuaufbau ausgeschlossen
wurden. Anfang September 2011 stehen die Initiatoren der Militärintervention
als Sieger da, während die deutsche Regierung sich verschätzt
hat. Zur Strafe sollen deutsche Firmen beim Wiederaufbau nur
eine geringe Rolle spielen. Deutschland hat also wegen seiner
Anti-Kriegshaltung Einfluss eingebüßt. Und wenn
mit internationaler Kriegsdienstverweigerung kein Geld zu
verdienen ist, dann wird sich auch die deutsche Regierung
in Zukunft wieder bereitwilliger an Kriegen beteiligen. Diese
Befürchtung drängt sich jedenfalls auf, wenn man
die jüngere Diskussion um die deutsche Nicht-Beteiligung
am Libyen-Krieg in Betracht zieht. Da hilft es leider wenig,
dass 80% der Bevölkerung die Enthaltung im Sicherheitsrat
richtig fanden.
Uli Cremer ist Mitglied der GRÜNEN FRIEDENSINITIATIVE
und Autor des 2009 erschienenen Buches „Neue NATO: die
ersten Kriege“
Hamburg, 25.10.2011
Uli Cremer
Kontakt:
Uli Cremer 0160 / 81 21 622
cremer@gruene-friedensinitiative.de
Wilhelm Achelpöhler 0171 / 17 17 392
achelpoehler@gruene-friedensinitiative.de
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