12.01.2012
NATO 3.0 oder: Der Nordpakt kommt
von Uli Cremer
- veröffentlicht in "Das
Blättchen" -
Im Dezember stritten sie sich mal wieder wie die Kesselflicker:
Beim NATO-Russland-Rat hatten sich beide Seiten trotz langjähriger
Diskussionen nicht über die NATO-Raketenabwehrpläne
verständigen können. Moskau drohte mit der Stationierung
von Kurzstreckenraketen in Kaliningrad, so dass sich viele
mediale Beobachter in die 80er Jahre und den guten alten Kalten
Krieg zurückversetzt sahen. Geschichten, die auf die
These einzahlen, „NATO kreist Russland ein“, und
die die alte Blockkonfrontation wieder aufleben lassen, gehen
immer gut. Mental sind viele bei der alten NATO, der NATO
1.0, stehen geblieben.
Mit der Realität haben solche Geschichten wenig bis
nichts zu tun. Der Ost-West-Konflikt ist unwiderruflich beendet,
die Sowjetunion ist aufgelöst. Rechtsnachfolger Russland
ist ein normales kapitalistisches Land. In Wirklichkeit sind
„Westen“ und Russland ökonomisch verflochten.
70 Prozent des russischen Außenhandels wird mit westlichen
Ländern abgewickelt. Russland und der Westen pflegen
gute Beziehungen und sind sogar militärisch verbündet.
Die Putin-Ära hat daran nichts geändert, sie hat
die Zusammenarbeit stattdessen vertieft – allem Putin-Bashing
in den westlichen Medien zum Trotz. Die Waffen der NATO und
Russlands richten sich immer weniger gegeneinander, sondern
beginnen sich zu ergänzen.
Eigentlich sind die Fakten eindeutig: Die Neue NATO, also
die NATO 2.0, entstand in den 90er Jahren. Dazu gehörte,
dass 1994 Russland (wie auch andere ehemalige Staaten des
Warschauer Paktes) mit der NATO ein Abkommen im Rahmen der
NATO-Partnerschaft für den Frieden schloss. 1997 wurden
die Grundakte NATO-Russland verabschiedet und ein Ständiger
Gemeinsamer Rat eingerichtet sowie erste gemeinsame Militärmanöver
abgehalten. US-Präsident Bill Clinton stellte Russland
die Aufnahme in die NATO in Aussicht.
Wie in anderen Beziehungen auch gab es zwischenzeitlich
natürlich manchen Streit, zum Beispiel beim Kosovo-Krieg
1999 oder beim Südossetien-Krieg 2008. Das ist immer
Futter für jene, die von den Schablonen des Kalten Krieges
nicht ablassen können. Aber auch das Verhältnis
zwischen Frankreich und den USA war über mehrere Jahrzehnte
nie konfliktfrei. Erst 2009 kehrte Paris nach 42 Jahren wieder
in die Militärorganisation der NATO zurück.
Entscheidend ist, dass Russland seit 2001 sehr konsequent
den NATO-Afghanistankrieg unterstützt und alles tut,
der NATO zum Sieg zu verhelfen. Nur eigene Truppen will Russland
vor dem Hintergrund des letzten Afghanistankrieges nicht einsetzen.
Seit Dezember 2011 ist auf Grund der Bombardierung eines pakistanischen
Grenzpostens gerade einmal wieder die Nachschubroute der NATO
durch Pakistan blockiert. Umso wichtiger ist die Nordroute
von Russland über Usbekistan, die schon im Afghanistankrieg
der Roten Armee benutzt wurde. Da trifft es sich gut, dass
Ende 2011 eine neue Eisenbahnstrecke von Usbekistan nach Mazar-e-Sharif
fertig gestellt wurde. Während Deutschland bereits 2003
ein Transitabkommen schloss, das erlaubt, den Bundeswehr-Nachschub
über russisches Gebiet abzuwickeln, dürfen die USA
die Route erst seit 2009 nutzen – nachdem die Obama-Regierung
die „Reset-Taste“ im Verhältnis mit Russland
gedrückt hatte.
Russische Expertise in Sachen Afghanistankrieg wird seitens
der USA schon länger gern eingekauft. So fliegen seit
einigen Jahren in Afghanistan frühere Piloten der Roten
Armee die gleichen Hubschrauber wie in den 80ern. Statt ihren
Sold aus Moskau zu empfangen, stehen sie heute als Söldner
auf der Payroll des Pentagon. Öffentlich bekannt wurde
dieses aufschlussreiche Detail, als die afghanischen Aufständischen
2008 ein entsprechendes Fluggerät abschossen und Russland
sich um die Bergung der beiden toten russischen Staatsbürger
kümmerte.
Dimitri Rogosin (russischer Vertreter bei der NATO), der
der NATO verbal sonst gern die Pest an den Hals wünscht,
weiß durchaus zu schätzen, dass die NATO in Afghanistan
den Job für Russland mitmacht: Wenn sich die Nato aus
Afghanistan zurückziehe – dann werde es für
Russland gefährlich. Denn: Ein Rückzug der Nato
würde von allen Extremisten, die sich in und um Afghanistan
tummeln, als Einladung aufgefasst, den Kampf über die
Grenzen Afghanistans hinaus nach Norden zu tragen, um sich
am Ende gegen Russland zu wenden. Das sei der Grund, so Rogosin,
weshalb Russland ein „objektives Interesse“ am
Erfolg des Westens in Afghanistan habe.
Auch bei anderen internationalen Krisen hat sich Russland
an die Seite des Westens gestellt. Zuletzt wurde im UN-Sicherheitsrat
kein Veto gegen den Libyen-Krieg eingelegt. Das Gemaule hinterher,
die NATO haben den Rahmen des UN-Mandats überschritten,
sollte man nicht überbewerten. Die russische Regierung
wusste, was sie tat und was passieren würde.
Die Perspektive der Einbeziehung Russlands in die NATO wird
besonders von deutscher Seite forciert. Hinter den Kulissen
verhinderte Berlin, dass die Ukraine oder Georgien NATO-Mitglied
wurden. Noch wichtiger ist aber die inzwischen formierte Allianz
mit Warschau. Sowohl die deutsche Kanzlerin Angela Merkel,
als auch der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski
können sich Russland in der NATO vorstellen. Um diese
Idee ins Gespräch zu bringen, verfassten im September
2011 Sergej Karaganow (Leiter des Rates für Außen-
und Verteidigungspolitik, eines einflussreichen russischen
Think-Tanks), Andrzej Olechowski (in den 90er Jahren polnischer
Außenminister) und Horst Teltschik (unter Helmut Kohl
Vizechef des Bundeskanzleramtes und nachmaliger Geschäftsführer
der Münchener Sicherheitskonferenz) in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung einen Namensartikel unter dem Titel „Frieden
und Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok“. Das klingt
nach kollektivem Sicherheitssystem und Abrüstung, aber
im Grunde geht es um die Formierung eines Militärpakts
des Nordens, den Nordpakt, die NATO 3.0. Der ehemalige Planungschef
von Verteidigungsminister Volker Rühe, Ulrich Weiser,
sieht die NATO in diesem Sinne künftig als strategischen
Rahmen für die Dreiergruppe Nordamerika, Europa und Russland.
Die Entwicklung hin zum Nordpakt ist dem schwindenden Einfluss
des Westens in der Welt geschuldet. 2030, so sagen die Prognosen,
werden die aufstrebenden Mächte China, Indien, Brasilien,
Südafrika und andere asiatische, afrikanische und lateinamerikanische
„Tiger“ zusammengenommen den Westen ökonomisch
überholt haben. Vor diesem Hintergrund haben sich die
US-Eliten inzwischen damit abgefunden, dass sie die Macht
stärker mit den EU-Staaten teilen müssen. Heutzutage
ist es selbstverständlich, dass US-Soldaten unter dem
Kommando anderer NATO-Staaten stehen, vor 20 Jahren war das
undenkbar. Im Libyen-Krieg war die US-Regierung mit einem
Platz in der zweiten Reihe zufrieden und überließ
Frankreich und Britannien die Führung. In 20 Jahren darf
dann vermutlich auch einmal ein russischer General bei einer
gemeinsamen Intervention das Kommando über irgendeinen
militärischen US-Verband ausüben.
Der Nordpakt hat mit den historisch erledigten Dimensionen
West gegen Ost nichts mehr zu tun. Er ist gegen den Süden
gerichtet. In Zukunft muss man auf gemeinsame Militärinterventionen
des Nordpakts in Afrika oder Asien einstellen. Mit dem Nordpakt
wird die Welt nicht friedlicher. Denn da sich mit NATO und
Russland Mächte zusammentun, denen ökonomisches,
politisches und kulturelles Gewicht global abnimmt, dürfte
die Neigung, militärische Mittel einzusetzen, zunehmen.
In puncto militärischer Macht wird dem Nordpakt, der
heute über 80 Prozent der Weltmilitärausgaben bestreitet,
in den nächsten Jahrzehnten niemand das Wasser reichen
können. Auch China nicht.
Kontakt:
Uli Cremer 0160 / 81 21 622
cremer@gruene-friedensinitiative.de
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