24.01.2012
Kommentar
Kabul? Kunduz? Chicago!
Von Wilhelm Achelpöhler und Uli Cremer
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mit Fußnoten]
Wenn man sich über den Krieg der NATO in Afghanistan
informieren will, dann fährt man am Besten nicht nach
Afghanistan, sondern nach Chicago. Jedenfalls am 20./21.Mai
2012 konnte man dort mehr über die Ziele der am Afghanistan-Krieg
beteiligten Staaten und die Schwierigkeiten, diese zu realisieren,
erfahren, als bei Feldstudien in zentralasiatischen Bergland.
In Chicago traf sich die NATO, um über ihre Afghanistanpolitik
zu beraten.
1. Die NATO und die UNO
Die NATO beschloss zunächst, dass der bisherige ISAF
Einsatz 2014 enden solle, was aber keineswegs mit einem Ende
des militärischen Engagements in Afghanistan und dem
Abzug aller Truppen gleichgesetzt werden sollte. Die NATO
will auf nicht absehbare Zeit in Afghanistan bleiben. „Der
Name der neuen NATO-Mission steht noch nicht fest, sie soll
aber nicht ISAF heißen und auf einem neuen UN-Beschluss
beruhen.“ (FAZ 22.5.12) Damit wäre zweierlei klargestellt:
zum einen die reale Reihenfolge von UN Beschlüssen und
ihrer Umsetzung: nicht die NATO kommt einem Wunsch der Völkergemeinschaft
nach, sondern die UNO soll nachvollziehen, was die NATO beschlossen
hat. Gegenüber den nicht in der NATO, aber im UN-Sicherheitsrat
vertretenen Vetomächten China und Russland wird damit
von den NATO Staaten die Erwartung ausgedrückt, dass
sie durch Zustimmung in der UNO diesen Planungen der NATO
ihre Zustimmung geben und sie damit völkerrechtlich absichern.
Es reicht eben heutzutage nicht, die eigene Machtentfaltung
real durchzusetzen, sie soll auch „ins Recht gesetzt“
werden.
2. „Raider heißt jetzt Twix“
Also heißt bei der NATO ab 2015, wenn in NATO-Sprache
die so genannte „Transformationsdekade“ beginnt,
„Raider“ eben „Twix“. „Sonst
ändert sich nix“ ging der damalige Werbeslogan
weiter, bei der NATO sind allerdings schon ein paar kleine
Änderungen dabei:
Erstens sollen weniger NATO-Soldaten vor Ort eingesetzt werden.
Vorsichtshalber hat man dazu in Chicago keine konkreten Zahlen
verabschiedet oder wenn, dann nicht veröffentlicht. In
der FAZ konnte man jedoch am 22.5.2012 lesen: „In der
NATO wird derzeit mit 10 000 bis 30 000 Soldaten gerechnet.“
Schon am 1.1.2012 hatte die SZ von einer NATO-Planung in der
Größenordnung von 15.000 Soldaten berichtet. Die
vom Regime Karsai eingesetzte Lorga Dschirga hatte bereits
2011 den Vorschlag für die Stationierung von 25.000 US-Truppen
bis zum Jahre 2024 unterstützt. Diese dürften allerdings
nicht komplett unter NATO-Kommando gestellt werden, denn es
soll offenbar auch weiterhin eigenständig agierende US-Spezialeinheiten
zur „Terrorismusbekämpfung“ geben . Zusammengefasst:
Statt heute 130.000 NATO-Soldaten sollen also ab 2015 nur
noch einige Zehntausend in Afghanistan eingesetzt werden –
also maximal eine Größenordnung wie in 2006 (31.000)
oder 2007 (41.000), bevor die gigantischen Truppenverstärkungen
unter der Obama-Regierung einsetzten. Wie diese Pläne
in den Medien als „Abzug“ durchgehen können,
ist völlig rätselhaft.
Was die deutsche Beteiligung betrifft, so hatte die tagesschau
nach dem NATO-Gipfel auch „erste Schätzungen aus
Diplomatenkreisen“ zu bieten: Danach werden „wohl
1000 Soldaten in Afghanistan bleiben... de Maizière...
kündigte an, dass der Bundestag im kommenden Jahr ein
neues Mandat für den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan
von 2015 an beschließen müsse. Der weitere Einsatz
in Afghanistan solle auf der Grundlage eines rechtlich eindeutigen
Mandats der Vereinten Nationen unter Führung der NATO
laufen, so de Maizière. »Allerdings wird es keine
Kampftruppen mehr geben, nur noch Einheiten, um die Ausbilder
zu schützen. «"
Das sind dann keine Kampftruppen? Aha. Am 13.12.2011 hatte
de Maizière die Dinge noch ehrlich auf den Tisch gepackt:
‚„Sachlich falsch“, so de Maizière,
sei im Übrigen die These, dass nach 2014 keine deutschen
Kampftruppen mehr in Afghanistan stationiert sein würden.
„Die weiter geplante Ausbildung von afghanischen Infanteriekräften
machen bei uns nicht die Sanitäter, sondern natürlich
Infanteristen. Und das sind kampffähige Truppen.“
Es gehe also um deren Auftrag, nicht um deren Fähigkeiten.
Es blieben kampffähige unterstützende Truppen, die
weiter ausbildeten. Deren Zahl über das Jahr 2014 hinaus
sei „völlig offen“.’
3. „Vorsprung durch Technik“
Offiziell hält man die Reduzierung der NATO-Truppen
für machbar, weil die afghanischen Streitkräfte
immer schlagkräftiger würden. Diese will die NATO
ab 2015 auch weiter subventionieren, mit 3,6 Mrd. US-$ pro
Jahr (deutscher Anteil: 195 Mrd. US-$). Da es sich bei der
afghanischen Armee jedoch tendenziell um eine „potemkinsche
Armee“ handelt , wird die militärische Fähigkeitslücke,
die durch den Abzug zehntausender westlicher Soldaten entsteht,
gemäß den Audi-Slogans „Vorsprung durch Technik“
gelöst: „Statt Zehntausender ‚Stiefel auf
dem Boden’ ... gibt es nur noch einen ‚leichten
Fußabdruck’ mit Einsätzen von Spezialkommandos
und Drohnenangriffen gegen Al Qaida und die Taliban in Afghanistan
und Pakistan. Die Tötung Usama Bin Ladins im Mai 2011...
war zugleich der Beweis für die Wirksamkeit dieser Strategie
und die informelle Siegesdeklaration.“ (FAZ 22.5.2012)
In der „Transformationsdekade“ wird man sich also
auf einen verstärkten Drohnenkrieg gefasst machen müssen.
Das entsprechende Gerät wird in den nächsten Jahren
angeschafft und in Afghanistan stationiert.
Nachgeholfen hat dieser strategischen Umorientierung natürlich
auch das Nachschubroutendesaster beim Afghanistankrieg: Seit
Ende November (also einem halben Jahr jetzt) kann kein Nachschub
mehr über Pakistan transportiert werden. Über diese
Route war einmal mehr als die Hälfte der Nachschubgüter
gerollt. Auslöser war die Bombardierung eines pakistanischen
Grenzpostens mit 25 Toten. Seitdem erlaubt Pakistan keine
Transporte mehr. Inzwischen scheinen sich die Forderungen
auf die finanzielle Ebene verlagert zu haben. In den Tagen
des NATO-Gipfel hieß es, Pakistan verlange jetzt einen
höheren Wegezoll: Statt 200 $ soll die NATO nunmehr pro
Container 5.000 $ entrichten .
In den letzten 6 Monaten hatte die NATO also nur noch die
Nordroute zur Verfügung oder den besonders teuren Lufttransport.
Im Norden „baute die Nato die alternativen Verbindungswege
über die nördlichen Anrainerstaaten Turkmenistan,
Usbekistan und Tadschikistan aus. Dazu werden zum Teil Wege
genutzt, die Moskau während der sowjetischen Invasion
angelegt hatte.“ Auch eine Eisenbahnstrecke von Usbekistan
zur Isaf-Hauptstadt in Nordafghanistan, Masar-e-Sharif, ist
seit letztem Jahr in Betrieb. Dass spätestens durch diese
Entwicklung Nordafghanistan, wo die Bundeswehr das Kommando
führt und seine Truppen konzentriert hat, eine militärstrategische
Schlüsselstellung erhalten hat, sei einmal mehr betont.
Die Nachschubwege werden in den meisten deutschen Medien
meist nur in Zusammenhang mit den „Abzugsplänen“
thematisiert. tagesschau.de schrieb z.B.: „Der Abzug
der NATO aus Afghanistan entwickelt sich zu einem logistischen
Albtraum.“ . 150.000 Container müssten abtransportiert
werden, 72.000 Fahrzeuge und so weiter. Deswegen in diesem
Zusammenhang ein kleiner Logistik-Tipp: Einfach ein paar russische
Militärberater engagieren! Die Sowjetunion stemmte den
Rückzug 1989 allein über die Nordroute. Sie hatte
knapp über 100.000 Soldaten und entsprechendes Gerät
in Afghanistan eingesetzt. Zugegeben: die NATO hat dort inzwischen
ein paar Soldaten mehr als die Sowjetunion in den 80ern, aber
es sollen ja auch einige Zehntausend verbleiben.
4. „Wir gehen gemeinsam rein und gehen gemeinsam raus“
Präsident Obama sagte in Chicago: „So wie wir
für unsere gemeinsame Sicherheit Opfer gebracht haben,
so werden wir in unserer Entschlossenheit zusammenstehen,
diese Mission zu Ende zu bringen.“ Bundeskanzlerin Merkel
drückte es etwas weniger pathetisch aus, meinte aber
das Gleiche: „Wir sind gemeinsam nach Afghanistan gegangen
und wir wollen auch wieder gemeinsam aus Afghanistan abziehen.“
(FAZ 22.5.12.)
Diese Argumentation rückte natürlich deswegen in
den Vordergrund, weil der neu gewählte französische
Präsident Hollande sein Wahlversprechen, die französischen
Soldaten bis Ende 2012 abzuziehen, nicht einfach brechen wollte,
sondern in Chicago erst einmal Rückgrat zeigte. Hätte
ihn wenigstens irgendeine andere größere Truppenstellernation
unterstützt, wer weiß, was aus dem Afghanistankrieg
geworden wäre. Nach dem NATO-Gipfel besuchte der Präsident
seine Truppen in Afghanistan und reduzierte sein Wahlversprechen
um ein Drittel: Nur 2.000 der 3.100 französischen Soldaten
sollen nun bis Weihnachten zuhause sein . Gegenwind erhielt
Hollande bemerkenswerterweise insbesondere aus Berlin. De
Maizière erklärte süffisant: „Deutschland
engagiert sich in der einen Region der Welt etwas mehr, Frankreich
in einer anderen. Wir haben uns entschlossen, das nicht öffentlich
zu kritisieren.“ (sic!) Eine kleine Spitze in Sachen
Libyen-Krieg konnte sich der deutsche Minister nicht verkneifen:
„Das heißt dann aber, dass wir, wenn es mal andersrum
ist, auch nicht wollen, das wir kritisiert werden.“
Bemerkenswert auch, was neuerdings das alleinige Kriterium
des Abzugs sein soll: dass er gemeinsam durchgeführt
wird. Maßstab für die Beantwortung der Frage, ob
die NATO aus Afghanistan ihre Kampftruppen abzieht, ist nicht
die Frage, ob es inzwischen gelungen ist, einen halbwegs verlässlichen
und einige Hunderttausend Mann zählenden staatlichen
Gewaltapparat in einem der ärmsten Staaten der Welt auf
die Beine zu stellen. Maßstab ist nicht, ob „die
Mädchenschule“ als Regelschule eingeführt
ist oder irgendein anderes der Kriegsziele erreicht ist, um
derentwillen seit mehr als einem Jahrzehnt Parteitage der
Grünen als Ausdruck praktizierter Verantwortungsethik
den Krieg billigen – unter äußerster Gewissensanstrengung
und innerer Zerrissenheit versteht sich. All das spielt jetzt,
wo es um das Ende des Krieges geht keine Rolle mehr. Damit
erweist sich der Krieg als Bündniskrieg. Für die
beteiligten NATO-Staaten kommt es darauf an, dass der Krieg
vom Bündnis getragen wird, was am Anfang keineswegs eine
Selbstverständlichkeit war. Als nach 9/11 der NATO-Rat
den bis heute geltenden Bündnisfall beschloss, also den
USA den Antrag der Bündnispartner machte, den Krieg doch
in der 50 Jahre lang bestehenden Militärkoalition zu
führen, wurde dieser Wunsch von den USA souverän
abgewehrt und die eigene Souveränität und Unabhängigkeit
von ihren Alliierten dadurch bewiesen, dass man den Krieg
auch ohne NATO, nämlich mit einer Koalition der Willigen
führen könne. Erst später, 2003 ist es insbesondere
auf Drängen Deutschlands dazu gekommen, dass der ISAF-Einsatz
unter NATO-Führung stattfindet . Die USA, sie hatten
gerade den Krieg im Irak begonnen, willigten ein und machten
ihren Alliierten die entsprechende Rechnung auf: sie mögen
sich an dem Krieg dann auch entsprechend finanziell beteiligen.
Deshalb war es gerade Deutschland, dass sich auch zum Ende
des ISAF-Einsatzes für einen gemeinsamen NATO Einsatz
stark gemacht hat – wie erwähnt auch mit einem
kritischen Blick auf den neuen französischen Staatspräsidenten
Hollande, der die Souveränität Frankreichs gerade
durch ein Ausscheren aus der Kriegsfront demonstrieren wollte.
Das besondere Interesse Deutschlands unter dem Dach der NATO
an der militärischen Machtentfaltung der USA teilzuhaben
und mitzubestimmen wird in der FAZ gerade anlässlich
des NATO-Gipfels in Chicago betont: „Die Vereinigten
Staaten können sich dabei eine derart gelockerte Nato
viel eher leisten als jeder europäische Verbündete.
Sparen müssen auch sie, aber trotzdem ist das Land immer
noch eine Weltmacht, die militärisch global handlungsfähig
ist. In Europa kann das keiner von sich behaupten, wie der
Libyen-Krieg wieder gezeigt hat.“ (Nikolaus Busse FAZ
22.5.12) – womit zugleich die „militärische
globale Handlungsfähigkeit“ als Anspruch der europäischen
Verbündeten als eine Selbstverständlichkeit unterstellt
ist.
Hamburg/Münster 27.Mai 2012
Kontakt:
Wilhelm Achelpöhler 0171 / 17 17 392 - achelpoehler@gruene-friedensinitiative.de
Uli Cremer 0160 / 81 21 622 - cremer@gruene-friedensinitiative.de
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