01.09.2013
Giftgaseinsatz in Syrien: die US-„Beweise“
– I am not convinced!
Von Uli Cremer
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mit Fußnoten
Es ist Sonntag, der 1.9.2013. Antikriegskriegstag. Die Welt
ist entsetzt über den Einsatz von Giftgas in Syrien und
fragt sich, wie mit diesem Verbrechen umzugehen ist. Immerhin
hatten UN-Inspekteure inzwischen die Gelegenheit, Untersuchungen
am Ort des Geschehens anzustellen. Inzwischen haben sie Syrien
verlassen. Ihre Auswertung wird noch einige Tage in Anspruch
nehmen.
Während die meisten politischen Akteure den entsprechenden
Bericht abwarten wollen, „wissen“ mehrere westliche
Regierungen bereits über alles bescheid und laufen verbal
geradezu Amok. Es ist zu befürchten, dass kurzfristig
entsprechende Taten folgen, zumal nach eigener Wahrnehmung
die Glaubwürdigkeit der Militärmacht Nr. 1, der
USA, auf dem Spiel steht.
Inzwischen legten britische und US-amerikanische Regierung
ihre Sicht der Dinge dar. Der britische Premierminister konnte
das britische Parlament mit seinen „Beweisen“
nicht überzeugen und erlitt eine Abstimmungsniederlage,
so dass es nun wohl zu keiner britischen Beteiligung an einem
Militärschlag gegen Syrien kommt. Am 30.8.2013 hat die
US-Regierung ihre Einschätzung (im Original: „assessment“)
vorgelegt . Darin wird die bisher höchste Opferzahl angegeben,
nämlich 1.429 Tote, selbst die syrischen Rebellen hatten
bisher nur von 1.300 Opfern gesprochen.
Am 31.8.2013 erklärte US-Präsident und Friedensnobelpreisträger
Obama dann, dass er die Entscheidung für einen militärischen
Angriff getroffen habe, aber noch den Kongress politisch einbinden
wolle. Die französische Regierung unter Hollande hat
Unterstützung zugesichert, ebenso die Türkei. Politisch
sind u.a. noch Australien und die Arabische Liga an Bord.
Weder die NATO, noch die EU haben unterstützende Beschlüsse
gefasst, so dass die Koalition der Willigen 2013 kleiner ausfallen
dürfte als 2003.
Die US-Einschätzung („assessment“):
Assad war’s
In der US-amtlichen Einschätzung wird behauptet, dass
das Assad-Regime den Giftgasangriff angeordnet und ausgeführt
habe. Dazu wird folgende Argumentationskette aufgebaut: 1.
Syrien besäße Chemiewaffen und entsprechende Trägersysteme.
2. Die Aufständischen hätten die entsprechenden
Fähigkeiten nicht. 3. Ergo wäre der Angriff vom
Regime zu verantworten. 4. Das Regime hätte nach dem
Chemiewaffenangriff das verseuchte Gebiet massiv mit Artillerie
beschossen, um Beweise zu vernichten, bevor dann die UN-Inspektoren
das Gebiet untersuchten.
Als Beweise habe man erstens Satellitenbilder, die zeigten,
dass die syrischen Regierungstruppen zur fraglichen Zeit Raketen
von Adra aus abgefeuert hätten. Dazu kämen Bilder,
die die Vorbereitungen zeigten, u.a. hätten die Regierungstruppen
dabei Gasmasken benutzt. Den Raketenbeschuss von Jawbar hat
die syrische Regierung selbst eingeräumt, bestreitet
allerdings, dass hierbei Chemiewaffen eingesetzt worden seien.
Insofern müsste sich die Beweisführung darauf beziehen.
Adra liegt im Nordosten von Damaskus, etwa 20 km vom Tatort
in Jawbar entfernt. In der Mitte, ca. 10 km vom Tatort entfernt,
ebenfalls nordöstlich von Damaskus, liegt Duma, das von
Aufständischen im Januar 2012 erobert wurde und seitdem
von ihnen kontrolliert wird; auch eine „al-islam Brigade“
scheint dort zu kämpfen (Bilder, die die entsprechende
Flagge zeigen, finden sich im Internet). Die russische Regierung
legte den anderen UN-Veto-Mächten Mitte der Woche im
Sicherheitsrat Satellitenbilder vor, auf denen der Abschuss
von Raketen aus Duma zu sehen sein soll. Diese schlugen nach
russischer Version zum fraglichen Zeitpunkt ebenfalls in Jawbar
ein. Weder die russischen, noch die US-amerikanischen Satellitenbilder
können zweifelsfrei beweisen, dass die jeweiligen Raketen
chemische Sprengköpfe getragen haben. Selbstverständlich
geht die US-Einschätzung mit keinen Wort auf die russischen
Bilder ein.
Als gerichtsfester Beweis kann die US-Einschätzung
an dieser Stelle wohl kaum durchgehen.
Zweitens behauptet die US-Regierung bzw. die US-Geheimdienst-Community,
man habe die Kommunikation zwischen einem syrischen „senior
official“ und den ausführenden Organen abgehört.
Entsprechende Fähigkeiten haben die US-Geheimdienste
selbstverständlich (siehe NSA-Affäre). Wer oder
was nun genau abgehört wurde, wird allerdings nicht mitgeteilt
bzw. offengelegt – mit dem üblichen Argument, man
müsse seine Quellen schützen. Insofern kann man
die Behauptung glauben, muss man aber nicht. Der russische
Präsident Putin tut das z.B. nicht und forderte (vermutlich
nach Studium der „US-Einschätzung“) am 31.8.2013
Obama auf, Beweise für die Täterschaft des Assad-Regimes
vorzulegen.
Alle anderen US-Beweisquellen beziehen sich auf den Nachweis,
dass Giftgas eingesetzt worden ist. Die einbezogenen Videos
und Fotos geben offenbar keine Hinweise auf die Täterschaft.
Zusammengefasst: Mit ihrer „Einschätzung“
präsentiert die aktuelle US-Regierung genauso wenig belastbare
Beweise, wie es die damalige US-Regierung unter Bush und die
damalige britische Regierung unter Blair vor dem Irakkrieg
2003 taten. Wenn es weitere Beweise geben sollte: Warum legt
die US-Regierung diese der Öffentlichkeit bzw. den anderen
UN-Sicherheitsratsmitgliedern nicht vor? Auch Spiegel Online
setzt in seiner Überschrift am 30.8.2013 Beweise in Anführungsstriche:
„Syrien-Intervention: Kerry legt "Beweise"
für Chemiewaffeneinsatz Assads vor“. Grund genug,
erst einmal die Untersuchungen der UN-Inspektoren abzuwarten.
Das sieht die US-Regierung allerdings völlig anders und
hat angekündigt loszuschlagen, wann immer es ihr passt.
Deutsche Diskussion
Insofern muss sich die deutsche Politik zu dem drohenden
US-Militärschlag positionieren, der auf Faust- statt
Völkerrecht beruht. Unisono fordern alle politischen
Kräfte in Deutschland, man müsse den Bericht der
UN-Inspektoren abwarten. Damit gewinnt man ein paar Tage Zeit,
aber es hilft vermutlich nicht, eine Positionierung bis zum
Bundestagswahltag zu vermeiden. Und im Grunde schimmert durch
die meisten taktierenden Erklärungen durch, dass man
selbstverständlich (wie die US-Regierung) das Assad-Regime
für verantwortlich hält. Die gezogene „rote
Linie“ ist also auch in der deutschen Diskussion einseitig:
Während Assad „notwendige Konsequenzen“ angedroht
werden, ist eine Täterschaft durch Rebellengruppen außerhalb
des Vorstellungsvermögens bzw. Vorstellungswillens. Jedenfalls
wird alternativ über eine Bombardierung von Rebellenstellungen
oder der Sponsoren in Qatar und Saudiarabien nicht diskutiert.
Das westliche Argument, die Rebellen seien technisch nicht
in der Lage, Chemiewaffen einzusetzen, ist wenig überzeugend.
Laut der türkischen Zeitung Zaman beschlagnahmte die
Türkei am 29.5.2013 in Adana bei al-Nusra-Verbänden
2 kg Sarin, die aus libyschen Beständen stammten. Da
das Assad-Regime die Kontrolle über große Teile
Syriens verloren hat, ist selbstverständlich möglich,
dass auch Chemiewaffenvorräte plus Trägermittel
in Rebellenhände geraten sind. Zahlreiche Armeeangehörige
sind bekanntlich übergelaufen – warum sollen darunter
nicht auch Überläufer mit Know-how für den
Einsatz von Chemiewaffen sein? Außerdem waren die UN-Inspektoren
ja nach Syrien gekommen, weil das Assad-Regime darum in erster
Instanz ersucht hatte. Es hatte die Rebellengruppen beschuldigt,
bereits mehrfach Chemiewaffen eingesetzt zu haben. Zudem gibt
es auf Seiten der Rebellen ein klares Motiv: Gelänge
es, dem Assad-Regime einen Giftgaseinsatz anzuhängen,
stiege die Chance auf eine militärische Intervention
durch westliche Mächte enorm. Immer wieder wird seit
zwei Jahren Luftwaffenunterstützung verlangt. Allerdings,
das sei betont, beweist ein vorhandenes Motiv nicht die Täterschaft
für ein Verbrechen.
Umgekehrt hat aber bisher noch niemand in der politischen
Arena und in den Medien ein wirkliches Motiv für die
Täterschaft durch das Assad-Regime geliefert. Alle Erklärungen
laufen im Grunde darauf hinaus, dass der Assad irre sei. In
der Bild-Zeitung wird das auch direkt so ausgesprochen. Chefkolumnist
Wagner schreibt dort am 30.08.2013: „Für mich gehört
Assad in die Psychiatrie. Er ist ein Irrer. Ein Unberechenbarer.
Ein Gaddafi. Ein Idi Amin. Ein Hitler. Er ist ein Doktor des
Bösen. Man muss ihn niederbomben. Irre dürfen nicht
unsere Welt regieren.“
Ersatzweise könnte der Bruder des syrischen Präsidenten,
Mahir, der Irre sein: „Der Giftgaseinsatz könne
ein Alleingang Mahirs gewesen sein und keine strategische
Entscheidung des Präsidenten...“ Die SZ bietet
folgendes Motiv an: „Mit konventionellem Bombardement
aber war es Assads Truppen trotz der Lufthoheit nicht gelungen,
sie zu vertreiben. Genau das lässt den Einsatz von Giftgas
plausibel erscheinen.“ Auch das ist kein zwingendes
Argument, denn alternativ könnten mehr Truppen und Waffen
eingesetzt werden. Die Lage der syrischen Regierungstruppen
hatte sich in den letzten Wochen und Monaten verbessert, nicht
verschlechtert.
Jenseits aller logischen Überlegungen soll zusammengefasst
in den letzten 12 Monaten Folgendes geschehen sein: Die US-Regierung
markiert für das Assad-Regime eine rote Linie. Würde
diese überschritten, zöge das ein direktes militärisches
Eingreifen der USA nach sich. Daraufhin überschreitet
das Regime immer wieder die rote Linie, um sich bombardieren
zu lassen. Kaum sind die UN-Inspekteure im Land - schon ordnet
Assad den nächsten Chemiewaffeneinsatz an, damit nun
wirklich endlich die westlichen Raketen auf Syrien abgeschossen
werden. Nur: warum sollte das Assad-Regime diese politische
Selbstmordstrategie verfolgen?
Position der Bundesregierung und der Bundestagsparteien
Da die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gegen eine
deutsche Beteiligung an einem Militäreinsatz gegen Syrien
ist und in einigen Wochen Bundestagswahlen anstehen, lavieren
viele politische Akteure. Eigentlich Alle schlagen vor, die
Untersuchungsergebnisse der UN-Inspektoren abzuwarten. Gleichzeitig
ist klar, dass diese wohl kaum die Täter eindeutig identifizieren
werden. Einen Konsens im Sicherheitsrat wird es in den nächsten
Wochen sehr wahrscheinlich nicht geben. Stattdessen ist noch
vor den Wahlen mit einem privaten, also nicht völkerrechtlich
legitimierten Militärschlag unter Führung der US-Streitkräfte
zu rechnen.
Diesem Problem stellt sich der deutsch-französische
GRÜNEN-Politiker und EU-Abgeordnete Cohn-Bendit, wenn
er fordert: „Ja, die Bundesregierung müsste sich
zusammen mit anderen EU-Ländern an der Vorbereitung einer
militärischen Aktion beteiligen.“ Allerdings steht
er bisher mit seiner Forderung recht allein da.
Einerseits distanziert sich – anders als 2002/2003
- außer der Linkspartei niemand von dem abenteuerlichen
Militärkurs der US-Regierung. Westerwelle findet die
US-Argumente sogar „plausibel“ und meint, „jeder
solle sie ernst nehmen.“
Andererseits hat die Bundesregierung erklärt, Deutschland
werde sich materiell nicht beteiligen. In diesem Zusammenhang
zeigt Merkel ein interessantes völkerrechtliches Verständnis:
„Deutschland kann sich an Militäreinsätzen
im übrigen nur mit einem Mandat der Vereinten Nationen,
der Nato oder der EU beteiligen – insofern stellt sich
die Frage nach einer Beteiligung der Bundeswehr jetzt ohnehin
nicht.“ Beschlüssen von UNO, NATO und EU kommt
also die gleiche Qualität zu. Für Merkel ist insofern
für die Selbstmandatierung von NATO und EU für Kriegseinsätze
legitim und politisch ausreichend. Aber das nur nebenbei.
Jedenfalls: Vor diesem Hintergrund wird es im Bundestag wie
beim Libyenkrieg zu keiner Abstimmung kommen, bei der Farbe
bekannt werden müsste.
Im Rahmen der westlichen Arbeitsteilung ist die Bundesregierung
jedoch aktiv und hat offenbar die Aufgabe, die „Blockadehaltung“
Russlands und Chinas zu überwinden. Sinn entsprechender
Telefonate war es, diese beiden UN-Veto-Mächte auf die
westliche Linie zu bringen. Da Merkel keine Beweise zur Hand
hatte, waren die Telefonate natürlich vergeblich. Darüber
ist Merkel schwer enttäuscht: „Es ist sehr bedauerlich,
dass sich Russland und China seit langer Zeit einer gemeinsamen
Haltung im Syrien-Konflikt verweigern, das schwächt die
Rolle der UN derzeit erheblich". In den entsprechenden
Chor stimmt auch der GRÜNE Spitzenkandidat Jürgen
Trittin mit ein, wenn er verlautbart: „Ein Tabubruch,
wie der Einsatz von Chemiewaffen, muss auch Russland und China
dazu bewegen, sich notwendigen Konsequenzen nicht zu entziehen.“
Wie fast der gesamte Mainstream kann und will auch er sich
nicht vorstellen, dass die westliche Einschätzung falsch
und jemand anders als das Assad-Regime der Täter sein
könnte. Eine ruhmreiche Ausnahme bildet hier der GRÜNE
Abgeordnete Omid Nouripour, der in einem Interview eine ergebnisoffene
Position einnimmt: „Und wenn es nicht Assad war, dann
müssen wir dringlichst mit sogenannten strategischen
Partnern wie zum Beispiel Saudi-Arabien und Katar darüber
reden, wen sie eigentlich mit welchen Mitteln in Syrien unterstützen.“
Also dann statt in Moskau und Peking in Doha und Riad anrufen.
Steinbrücks 6-Punkte-Plan und zweite Genfer
Syrienkonferenz
Wer internationale Konflikte lösen will, muss dabei
zumindest gelegentlich Kompromisse machen. Das hat sich bezüglich
des Syrienkonflikts bisher nicht bis in die westlichen Regierungen
herumgesprochen. Und hier muss man den SPD-Spitzenkandidat
Steinbrück einmal loben. Er hat immerhin einen konstruktiven,
deeskalierenden 6-Punkte-Plan vorgelegt, der mit einer 72-stündigen
Waffenruhe beginnen soll und dann einen weiteren Prozess beschreibt.
Die syrische Regierung soll das internationale Chemiewaffenabkommen
unterzeichnen, und die syrischen Chemiewaffen sollen unter
Kontrolle gebracht werden. Eine politische Regelung soll auf
der zweiten Genfer Syrienkonferenz beschlossen werden. Kurzfristig
soll der G-20-Gipfel genutzt werden, „um einen Ausweg
aus der Gewaltspirale in Syrien zu finden. Der Gipfel sollte
eine Vierergruppe, bestehend aus dem UN-Generalsekretär,
dem amerikanischen und dem russischen Präsidenten und
dem Generalsekretär der Arabischen Liga bitten, gemeinsam
Verantwortung zunächst für eine Durchbrechung der
Gewaltspirale und mittelfristig für einen politischen
Prozess zu übernehmen.“
Die Herausforderung des Steinbrück-Plans ist: Für
einen funktionierenden Waffenstillstand und erfolgversprechende
Friedensverhandlungen müssten die beiden Großmächte
USA und Russland ihre jeweilige Klientel im Syrienkrieg an
den Verhandlungstisch zwingen (statt sie weiter aufzurüsten).
D.h. Russland wäre für die syrische Regierung zuständig,
die USA für die Rebellenseite. Und da hätten die
USA in Kooperation mit ihren arabischen Verbündeten das
interessante Problem zu lösen, wie sie ihre ungeliebten
Bündnispartner, die islamistischen Gruppierungen (nicht
zuletzt die Al-Nusra) einbinden. Auf ein entsprechendes Konzept
darf man gespannt sein. Aus dieser Verantwortung hat sich
der Westen durch die Erklärung von Al-Nusra zur Terrororganisation
nicht heraus stehlen können.
Leider hat die US-Regierung gerade die Idee der zweiten Genfer
Friedenskonferenz beerdigt und die entsprechenden Gespräche
mit Russland abgesagt. Insofern wäre es gut, Merkel und
Westerwelle würden in Washington oder auch in Paris anrufen,
um diese beiden Verbündeten von ihrem abenteuerlichen
Kurs abzubringen. Angesichts der dünnen „Beweislage“
in Sachen Giftgaseinsatz könnte der Außenminister
das Telefonat so einleiten: „I am not convinced!“
Uli Cremer
Hamburg, 1.9.2013
Kontakt:
Uli Cremer 0160 / 81 21 622 - cremer@gruene-friedensinitiative.de
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