02.10.2013
Giftgaseinsatz in Syrien:
Klarheit nach dem UN-Inspektorenbericht?
von Uli Cremer
Am 28.9.2013 verabschiedete der UN-Sicherheitsrats seine
Resolution 2118 zu Syrien. Darin hat Russland sich im Wesentlichen
durchgesetzt: Erstens wird keine Schuldzuweisung an das Assad-Regime
bezüglich des Giftgaseinsatzes am 21.8.2013 vorgenommen.
Zweitens wird bei Nichtbefolgen der Resolution der syrischen
Regierung nicht mit einem automatischen Militärschlag
auf Grundlage eines Kapitel-VII-Mandats gedroht. Dazu müsste
ein neuer Beschluss des Sicherheitsrats gefasst werden, die
Russland jederzeit verhindern könnte. Anderes wäre
aus russischer Sicht auch widersinnig: Moskau geht schließlich
davon aus, dass der Giftgaseinsatz von der Rebellenseite zu
verantworten ist. Entsprechend unterstreicht der Sicherheitsrat
(im Konsens), dass nicht nur die Regierungsseite, sondern
auch die Aufständischen, mithin »no party in Syria
should use, develop, produce, acquire, stockpile, retain,
or transfer chemical weapons«. UN-Sicherheits-Resolution
2118 (2013)
Man sieht: Sechs Wochen nach dem Giftgasangriff vom 21.8.2013
ist dieser alles Andere als aufgeklärt. Auch die UN-Inspektoren
konnten mit ihrem ersten am 16.9.2013 veröffentlichten
Bericht keine Klarheit schaffen - zumal sie keine Täter
benennen sollten. Aber warum war das eigentlich nicht Teil
ihrer Aufgabe? Der syrische Außenminister die Vorgänge
jüngst vor der UN-Vollversammlung so erläutert:
„Wir hatten vorgeschlagen, das Mandat der UN-Experten
auch durch die Möglichkeit zu erweitern, die Schuldigen
zu ermitteln. Aber die USA und andere Länder wie Großbritannien
sträubten sich dagegen und ließen die Mission nur
feststellen, ob Kampfstoffe eingesetzt wurden oder nicht“
Walid
Muallim. Ein interessantes Detail, das das westliche Narrativ
(„Der Assad war’s!“) nicht gerade stützt.
Die westlichen Regierungen sowie die meisten westlichen Medien
zeigen nach dem 16.9. wenig Neigung ihr ursprüngliches
Narrativ aufzugeben. Unisono erklärten sie, der Inspektorenbericht
deckte ihre Sicht der Dinge. Dass ist jedoch falsch.
Blicken wir kurz in den August 2013 zurück. Anders als
vor dem Irak-Krieg 2003 übernahm 2013 nicht die britische,
sondern die US-amerikanische Regierung die Aufgabe, die „Beweise“
zur Rechtfertigung eines Militärangriffs zusammenzustellen
und veröffentlichte am 29.8.2013 ein vierseitiges „Assessment“
. Zentrale Behauptung dabei: „Der Assad war’s.“
Andere westliche Geheimdienste stützten diese Theorie.
Anders als 2003, als u.a. die deutsche Regierung Schröder/Fischer
ausscherte, waren dieses Mal alle westlichen Akteure „convinced“
Richtung des Raketenangriffs unklar
Für den Tathergang ist wichtig, von wo die Trägerwaffen
gestartet wurden. Vergleicht man das US-Dokument mit dem UN-Inspektorenbericht
im Detail, ergibt sich ein Widerspruch, der medial geflissentlich
übersehen wurde: Während das US-Assessment einen
Raketenangriff aus dem Nordosten behauptet (aus dem Ort Adra),
ist seitens der Inspektoren von „Nordwesten“ die
Rede: „... the rockets are believed to have arrived
from northwest.“ (Seite 15). In dieser Richtung liegt
der Kassiun-Berg: „Dort befindet sich das Hauptquartier
von Assads Elite-Einheit.“ In gleicher Richtung liegt
allerdings auch der von Rebellen kontrollierte Stadtteil Barzeh,
den bis Ende September 2013 das Regime trotz massiver Versuche
noch nicht zurückerobert hatte, wie zahlreiche Rebellen-Videos
auf Youtube belegen. Insofern ergibt der Inspektorenhinweis
keinen klaren Hinweis für die Täterschaft, zumal
die Formulierung „are believed“ doch sehr offen
bleibt. Das russische Narrativ ging ebenfalls vom Nordosten
aus. Danach hätten die Rebellen Raketen aus dem von ihnen
kontrollierten Duma abgefeuert, das auf dem halben Wege zwischen
Adra und den Zielorten liegt.
Die ursprünglichen US-„Beweise“ waren zum
einen Satellitenbilder. Auch die französische Regierung
behauptete, über solches Bildmaterial zu verfügen.
Der russische Außenminister Lawrow ist allerdings „not
convinced“: »„Das, was uns die amerikanischen
sowie die britischen und die französischen Partner sowohl
früher als auch in letzter Zeit gezeigt haben, überzeugt
uns absolut nicht. Dort gibt es keine Fakten. Wenn wir aber
um detailliertere Bestätigungen bitten, sagt man uns:
‚Wissen Sie, das alles ist geheim, deshalb können
wir es nicht zeigen.’ Das bedeutet, dass es solche Fakten
gar nicht gibt.“« RIA
Novosti 2.9.2013
Umgekehrt hatte Russland bereits am 21.8. dem Sicherheitsrat
eigene Satellitenbilder vorgelegt, die einen Rebellenangriff
belegen sollten, aber von den westlichen Mächten für
nicht überzeugend erachtet wurden. (Vergl. z. B. Hans
Springstein im FREITAG 26.8.2013)
Unschön: Externe Einflussnahme auf den Inspektorenbericht
Offenbar ist der UN-Inspektorenbericht nicht im stillen Kämmerlein
entstanden, sondern es wurden mutmaßlich während
bei der Abfassung externe Quellen bemüht, ohne diese
zu benennen oder offen zu legen. Sogar einzelne Untersuchungsergebnisse
scheinen nach außen gegeben worden zu sein. So fanden
einzelne Grafiken, die schon in der New York Times und von
HRW veröffentlicht worden waren, Eingang in den Bericht,
so dass dieser hinterher eben jene Veröffentlichungen
bestätigte („Import von Information“). Als
Experte wurde offenbar Igor Sutyagin vom Londoner RUSI (Royal
United Services Institute), das der britischen Regierung nahesteht,
hinzugezogen. In seiner Video-Präsentation vom 9.September
2013 sind Unterlagen aus dem UN-Inspektorenbericht zu sehen
Igor
Sutyagin / RUSI 9.9.2013. Und dieser wurde bekanntlich
erst eine Woche später veröffentlicht („Export
von Information“). Vergleiche hierzu im Detail: Subrata
Goshroy
Raketentypen und Sprengköpfe
Während Britannien von 350 und Frankreich von 281 Opfern
sprechen, lautet die US-Zahl: 1.429 (darunter 426 Kinder).
Da es sich um geheimdienstliche Quellen handelt, sind die
Quellen geheim. Die UN-Inspektoren haben sich vorsichtshalber
auf keine Zahl festgelegt. Die US-Regierung musste zu ihrer
extrem hohen und von anderen Quellen abweichenden Opferzahl
eine Taterklärung liefern. Das tat sie zunächst
nicht und sprach vage von Raketen- und Artillerieangriffen.
Es war die New
York Times, die am 4.9.2013 das erste Mal einen Sprengkopf
erwähnte, der 50 Liter Sarin enthalten könnte. Zuvor
waren die Vermutungen von Sprengköpfen mit 1 oder 2 Litern
ausgegangen. Einen Sprengkopf, der eine so große Menge
fasst, so die Argumentation, könne nur das Assad-Regime
zusammengezimmert haben. Damit hatte die US-Regierung eine
plausible Erklärung für die sehr hohe eigene Opferschätzung.
Das sieht Iwanow (Chef der russischen Präsidialverwaltung)
allerdings genau andersherum: Ihm »zufolge waren an
die betroffene Trägerrakete große Behälter
angebracht worden, die Sarin-Spuren aufwiesen. „Das
ist ganz eindeutig ein primitives Fabrikat, denn keine einzige
Armee in der Welt nutzt derartige Behälter“, betonte
er.« RIA
Novosti 21.9.2013
Auch die von den Inspektoren vorgefundenen Raketenteile schaffen
keine Klarheit.
Ruslan Puchow, Direktor des Moskauer Zentrums für Strategie-
und Technologieanalyse, argumentiert so: »Der eine Raketentyp
sei schon lange nicht mehr Teil des syrischen Arsenals, der
andere sei es noch nie gewesen: „‘Das erste Geschoss
lässt sich leicht identifizieren: Es wurde im Bericht
als 140mm-Rakete vom Typ ?-14 für den alten sowjetischen
Mehrfachraketenwerfer BM-14-17 aus dem Jahr 1952 bezeichnet‘.
[…] Die syrische Armee habe alle Mehrfachraketenwerfer
BM-14-17 schon längst außer Dienst gestellt, auch
die Geschosse des Typs ?-14 haben ihre Haltbarkeit seit langem
überschritten. […] ‚Das zweite Geschoss vom
Kaliber 360 mm stammt offenbar aus einem Eigenbau‘,
so der Experte weiter. Er bezweifelte, dass die syrische Armee
‚derart primitive Munition produziert und einsetzt‘“
(RIA Novosti, 17.09.2013)« (zitiert nach: Jürgen
Wagner IMI) Durch die Beschriftung auf einem Raketenteil
ist eindeutig, dass die aufgefundene M-14-Rakete 1967 (also
vor 46 Jahren) in Nowosibirsk hergestellt wurde. Die in Rede
stehenden Raketentypen sind seitens der Sowjetunion außer
an Syrien auch an Libyen, Jemen und Ägypten geliefert
worden. Insofern könnte sich die Rebellenseite, sofern
sie Täter wäre, auch aus nicht-syrischen Arsenalen
bedient haben.
Abgehörte Telefongespräche
Weitere „Beweise“, die im UN-Inspektorenbericht
natürlich nicht vorkommen, sind abgehörte Telefongespräche.
Dass insbesondere die US-Geheimdienste so etwas können
– das ist unbestritten. Aber bisher wurden die Bänder
niemanden vorgespielt, schließlich ist alles geheim.
Einen guter Überblick über verschiedene mit- bzw.
abgehörte Gespräche, die das eine oder das andere
Narrativ belegen (sollen), findet sich bei Jürgen
Wagner IMI.
... aber wo ist das Motiv?
Schwäche der westlichen Erzählung ist das fehlende
Motiv. Assad wird zwar vehement beschuldigt, nur: warum sollte
er den Angriff am 21.8.2013 angeordnet haben? Z.B. meldete
Klaus-Dieter Frankenberger in der FAZ (22.8.2013) seine Zweifel
an: „Angesichts der Dramatik des Vorgangs fragt man
sich, warum Assad Chemiewaffen ausgerechnet jetzt hätte
einsetzen sollen, da sich UN-Inspekteure in Syrien aufhalten
und die Regierungstruppen nicht auf dem Rückzug sind.“
Insbesondere die US-Regierung hatte bei C-Waffeneinsatz ein
Jahr zuvor mit einer Militärintervention gedroht! Warum
sollte Assad dafür den Anlass liefern? Dass es bis heute
keine US-Luftangriffe auf Damaskus gab und sein Regime aller
Beschuldigungen zum Trotz in den letzten Wochen international
wieder mehr Anerkennung fand, kann wohl kaum als ernsthaftes
Kalkül gelten.
Plausibler wäre eine Variation im westlichen Narrativ:
Assad habe den Angriff nicht selbst angeordnet, aber decke
jetzt die Täter aus seinen eigenen Reihen. Sonst müsste
er eingestehen, dass er den Laden nicht mehr im Griff hätte.
In diese Richtung versuchte der deutsche Geheimdienst zu steuern,
als er behauptete, seine abgehörten Telefonate belegten,
dass Assads Feldkommandeure mehrfach den Einsatz von C-Waffen
verlangt hätten, aber Assad hätte stets abgelehnt.
Den Einsatz am 21.8. habe er nicht persönlich genehmigt
Assad-Offiziere
sollen auf Giftgas-Einsatz gedrängt haben, SZ 8.9.2013.
Der oben erwähnte Igor Sutyagin brachte am 9.9. die Variante
ins Spiel, dass die Hisbollah die Täter sein könnten.
Entweder habe Assad ihnen entsprechende C-Waffen übergeben
oder sie hätten sie sich anderweitig angeeignet. Als
Beleg wird ein Raketenstart angeführt, bei dem Uniformierte
mit roten Baretten zu sehen sind. Die entsprechende Kopfbedeckung
ist auch bei den Hisbollah-Kämpfern üblich Igor
Sutyagin 9.9.2013.
Das Problem wäre jedoch, dass westliche Regierungen
dann anders mit Assad umgehen müssten. Plötzlich
wäre er gewissermaßen Partner bei der Lösung,
weil die Forderung z.B. lauten müsste: Assad sollte die
Täter festnehmen und vielleicht noch nach Den Haag ausliefern.
Bisher will man aber Assad selbst in Den Haag vor Gericht
bringen. Gerade der scheidende deutsche Außenminister
Westerwelle macht sich dafür stark.
Das russische Narrativ ist hingegen bezüglich des Motivs
absolut plausibel: Die Rebellen hätten mit Hilfe des
Giftgaseinsatzes eine westliche Militärintervention herbeiführen
wollen. Entsprechend enttäuscht reagierten sie, als diese
erst einmal abgesagt wurde. Allerdings ist die Faktenlage
auch hierfür nicht wasserdicht. Ein Motiv macht noch
keine Tat.
Deutschland lieferte Ausgangsstoffe für C-Waffen
an Syrien
Wie die anderen westlichen Regierungen ging auch die deutsche
davon aus, dass das Assad-Regime den Giftgaseinsatz zu verantworten
hätte. Da war es natürlich ungünstig, dass
sich just im September 2013 herausstellte, dass deutsche Firmen
mit regierungsamtlicher Genehmigung über Jahre die Ausgangsstoffe
für die am 21.8. verwendete C-Waffensubstanz (Sarin)
an das Assad-Regime geliefert hatte. „Sowohl die rot-grüne
als auch die schwarz-rote Bundesregierung haben zwischen 2002
und 2006 den Export von Chemikalien an Syrien erlaubt, die
auch zur Produktion des Giftgases Sarin verwendet werden können.“
tagesschau.de
18.09.2013 Das hatte eine schriftliche Anfrage der Linksfraktion
ein paar Tage vor der Bundestagswahl zutage gefördert.
Einige Tage später stellte sich heraus, dass die Lieferungen
munter bis 2011 weitergegangen waren Jan
van Aken 30.09.2013. Verantwortlich waren also die beiden
Regierungen Schröder/Fischer und die beiden Regierungen
Merkel samt ihrer Koalitionspartner. Die Behauptung, dass
die Lieferungen nur zivil verwendet worden seien, kann man
glauben, muss man aber nicht. Es war allgemein bekannt, dass
Syrien ein Chemiewaffenprogramm unterhielt und der Chemiewaffenkonvention
nicht beigetreten war. Und das bedeutet: All die Parteien,
die mit hohem moralischen Impetus in den letzten Wochen nach
einer „harten Reaktion gegen das Assad-Regime“
wegen des Giftgaseinsatzes vom 21.8.2012 riefen, tragen Mitverantwortung
für die Lieferung dieser dual-use-Güter. Auch die
GRÜNEN waren Teil einer Regierung, die potentielle Ausgangsstoffe
für das syrische Chemiewaffenprogramm geliefert hat.
Im Wirtschaftsministerium, das Verantwortung für die
Genehmigung der dual-use-Güter trägt, war der GRÜNE
Rezzo Schlauch von 2002 bis 2005 Parlamentarischer Staatssekretär.
Das schreit nach Aufklärung.
Inwieweit den deutschen Regierungen der letzten 15 Jahre
auch die Komplizenschaft für den Giftgaseinsatz vom 21.8.2013
vorgeworfen werden kann, bleibt allerdings unklar: Erstens
ist nicht bewiesen, dass die Ausgangsstoffe tatsächlich
für das Chemiewaffenprogramm genutzt wurden (Wirtschaftsministerium
und Bundeskanzlerin haben das – wie erwähnt –
erst einmal bestritten). Zweitens ist, wie dargelegt, keinesfalls
bewiesen, dass die am 21.8.13 eingesetzten Chemiewaffen aus
syrischen Beständen stammen. Falls die Täter auf
Rebellenseite zu finden wären, könnte das Sarin
auch aus nicht-syrischen Quellen stammen. Dann ergäbe
sich gar kein Zusammenhang – auch wenn die Lieferungen
an sich skandalös bleiben.
Deutsche Politik und Faktenlage
Es ist politisch kurzsichtig, dass sich die meisten politischen
(Mainstream-)Akteure in Deutschland in Ignoranz der Faktenlage
bereits mehr oder weniger auf das Assad-Regime als Täter
festgelegt haben. Die Position der Bundesregierung lautet:
„Die Indizien deuten klar darauf hin, dass das Assad-Regime
die Verantwortung für diesen Tabubruch trägt“
(Westerwelle
18.9.2013). Damit identisch ist die Position der GRÜNEN
Bundestagsfraktion: »Der UN-Sicherheitsrat bleibt aufgefordert,
sich auf weitgehende Schritte zur Aufklärung des Giftgasangriffes
am 21. August zu verständigen. Der damalige Einsatz von
Sarin, der allen Indizien zufolge vom Assad-Regime durchgeführt
wurde, ist ein grauenvolles Kriegsverbrechen. Es wäre
notwendig gewesen, dass der Sicherheitsrat den Internationalen
Strafgerichtshof mit Ermittlungen zu den Vorfällen beauftragt.«
GRÜNE
BUNDESTAGSFRAKTION 28.9.2013
Statt voreiligem Sicherheitsrats-Bashing wäre ein gründlicheres
Studium der Faktenlage von Vorteil. 2003 (in Zeiten von Rumsfeld
und Bush) war mehr politisches Rückgrat.
Uli Cremer
Hamburg, 2.10.2013
Kontakt:
Uli Cremer 0160 / 81 21 622 - cremer@gruene-friedensinitiative.de
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