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Hamburg / Münster 23.02.2010

Uli Cremer / Wilhelm Achelpöhler:

 

Neue Afghanistan-Strategie 2010: Wieder mehr Truppen!

 

Im Januar wurde mit großem Pomp eine „Afghanistan-Konferenz“ in London inszeniert. Regierungsvertreter von 68 Staaten (darunter die internationalen Truppenstellerstaaten, aber auch Vertreter der Großmächte Russland, China Japan und Indien) trafen sich ein weiteres Mal mit ihren afghanischen Verbündeten (in Form der Karzai-Regierung). Als Einlader fungierten die britische Regierung, die UN und die afghanische Regierung. Die Konferenz wurde insbesondere von Britannien und Deutschland initiiert.

Vor vier Jahren, am 31.01.2006, traf sich in London die gleiche Gemeinde und verabschiedete den so genannten „Afghanistan Compact“. Im Bundestagsmandat für den Bundeswehreinsatz in 2006 hieß es dazu: „Darin werden die allgemeinen Entwicklungsgrundsätze für die Wiederaufbaubemühungen in Afghanistan vorgestellt, die Eigenverantwortung Afghanistans für seine Entwicklung festgeschrieben (Afghan ownership) und die umfassende Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zugesagt. Die internationalen und die afghanischen Wiederaufbaubemühungen werden sich bis 2010 auf folgende Bereiche konzentrieren: Sicherheitsunterstützung, Regierungsführung, Rechtsstaat und Menschenrechte, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie Drogenbekämpfung als Querschnittsthema.“1

2010 geht es laut Auswärtigem Amt um die gleichen Themen: „Auf dem Weg zu mehr afghanischer Eigenverantwortung sagten die Konferenzteilnehmer sowohl mehr zivile Hilfe als auch einen verstärkten Aufbau der afghanischen Sicherheitsorgane zu. Gleichzeitig verpflichtete sich die afghanische Regierung zu "guter Regierungsführung".“2

Ein Ende des Afghanistan-Krieges ist auch nach der Londoner Konferenz nicht absehbar. Auch wenn in den Medien viel „vom Beginn des Abzugs“ die Rede war, haben die Krieg führenden Akteure bisher keinen Willen erkennen lassen abzuziehen. Weder von Seiten der NATO, der US-Regierung oder auch der deutschen Bundesregierung gibt es ein Enddatum, denn das wäre laut Minister Guttenberg „problematisch“. „Das wäre das Signal: Wir stellen jetzt den Wecker, und wenn dieser geklingelt hat, kann all das zurückgedreht werden, was bis dahin aufgebaut wurde… Wie lange sich der Prozess [des Abzuges] hinauszögern wird, wird eine Frage des erzielten Erfolges sein.“ [1] Ziel ist also weiterhin, den Krieg zu Bedingungen zu beenden, die für die eigene Seite günstig sind.

 

Von der neuen US-Strategie zur Londoner Afghanistan-Konferenz

US-Präsident Obama hatte nach monatelangen Beratungen mit US-Experten am 1.12.2009 in West Point die zukünftige US-Strategie für Afghanistan vorgestellt.

Der neuen Strategie lag eine düstere Beschreibung der Lage in Afghanistan zu Grunde. Obama stellte fest, dass nur noch wenig von der Demonstration überlegener US-amerikanischer Militärmacht des Jahres 2001 übrig geblieben war, als die Taliban von der Macht in Kabul vertrieben wurden: “Die Lage in Afghanistan (hat sich) verschlechtert... Das Land erlitt mehrere Jahre lang Rückschläge...Schritt für Schritt haben die Taliban begonnen, die Kontrolle über einzelne Gebiete Afghanistans an sich zu reißen. Obwohl vom afghanischen Volk eine legitime Regierung gewählt worden war, ist sie durch Korruption, den Drogenhandel, eine unterentwickelte Wirtschaft sowie unzureichende Sicherheitskräfte behindert. Die Führung al-Qaidas (schuf sich) einen sicheren Zufluchtsort in Pakistan. Afghanistan ist nicht verloren... Es gibt keine akute Gefahr, dass die Regierung gestürzt wird, wenngleich die Taliban stärker geworden sind3.”

 

Obama nannte „drei Kernelemente“ der US-Strategie: „Militärische Maßnahmen, um die Voraussetzungen für eine Machtübertragung zu schaffen, eine starke Erhöhung der Anzahl der zivilen Kräfte zur Unterstützung positiver Maßnahmen und eine effektive Partnerschaft mit Pakistan.“4 Entscheidende und auch finanziell bedeutsamste Maßnahme war natürlich die Aufstockung um weitere 30.000 US-Soldaten im 1.Halbjahr 2010; diese lag gemäß Obama „im vitalen nationalen Interesse“. Als Trostpflaster und gemäß der alten NATO-Logik aus dem Kalten Krieg „Aufrüsten, um abzurüsten“ kündigte Obama optimistisch an, dass durch die Maßnahme ab Anfang 2012 ein Truppenrückzug eingeleitet werden könne: „Nach 18 Monaten wird der Abzug unserer Truppen und ihre Rückkehr nach Hause beginnen. Das sind die Ressourcen, die wir brauchen um die Initiative ergreifen zu können, während wir die afghanischen Kapazitäten aufbauen, die dann einen verantwortungsvollen Abzug unserer Streitkräfte aus Afghanistan möglich machen werden.“5

Nachdem sich die USA also die neue Afghanistan-Strategie unilateral überlegt hatten und alles entschieden war, tagten ein paar Tage später die NATO-Verteidigungsminister bzw. die Minister der Truppen stellenden ISAF-Staaten. Diese begrüßten die Truppenaufstockung und vollzogen die US-Strategievorgaben in allen Punkten nach:

 

“We strongly welcome President Obama's announcement that the United States will provide substantial additional troops and resources for this purpose. We also welcome the additional contributions announced recently and the fact that many other ISAF nations are, or will be increasing their military and civilian contributions in Afghanistan… Enhancing political dialogue and deepening our cooperation with Pakistan, in particular, will be a priority.“6

 

Die deutsche Regierung beschloss zwar alles mit, wollte aber im Dezember partout noch keine offizielle Zusage zur Aufstockung des Bundeswehrkontingents machen. Stattdessen verlängerte der Bundestag im Dezember demonstrativ das bisherige ISAF-Mandat.

Am 28.Januar 2010 dann die Londoner Afghanistan-Konferenz. Diese interpretiert z.B. Sven Hansen von der taz als weitere Runde zur Absegnung der US-Strategie: „De facto verpflichteten sich die knapp 60 teilnehmenden Staaten mit der Konferenz zur Unterstützung der Afghanistanpolitik der US-Regierung von Barack Obama und seines Generals McChrystal.“7 Eine Würdigung des Truppenaufwuchses (als Hauptelement der US- und NATO-Strategie) kommt jedoch im Abschlusskommuniqué NICHT vor! Gelobt wird die ISAF dafür, dass sie partnerschaftlich mit der afghanischen Armee zusammenarbeiten, die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte forcieren und mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen will. Das Ziel, nach und nach die Verantwortung für die Sicherheit von der ISAF auf afghanische Organe zu übertragen wird ebenfalls unterstützt. Anfang 2011 soll das in ersten Provinzen geschehen sein. Aber das von Obama und NATO vorgesehene Mittel (mehr Soldaten) unterstützt die Londoner Konferenz gerade nicht. Das ist insofern bemerkenswert, als andere militärische Beiträge wie die Gewährung von Transitrouten, um den Nachschub sicherzustellen, explizite Erwähnung finden. Offenbar wird die Ausweitung des Afghanistan-Krieges von Russland, China und Indien nicht mitgetragen.

Vor diesem Hintergrund ist absurd, dass die Bundesregierung die Londoner Konferenz am 28.1.2010 als Begründung für die Aufstockung des Bundeswehrkontingents heranzieht. Der internationale Aufstockungsbeschluss ist am 4.12.2010 auf dem Treffen der ISAF-Verteidigungsminister in Brüssel gefallen – mit der Stimme des deutschen Vertreters (= Guttenberg).

 

Die NATO-Agenda 2010: Dosis erhöhen - mehr Truppen

 

Die NATO-Agenda 2010 für Afghanistan sieht also in den nächsten Monaten eine weitere massive Aufstockung der westlichen Truppen vor: Im Sommer werden etwa 150.000 westliche Soldaten am Hindukusch kämpfen. 2009 waren es erst 110.000. Damit hat der Westen inzwischen mehr Truppen stationiert als die Sowjetunion in den 80er Jahren. Und diese kämpfte nicht nur gegen Mudschahedins, sondern hinter diesen stand nicht zuletzt die Weltmacht USA, die Geld und Waffen lieferte. Auch einzelne ausländische Kämpfer unterstützten die „afghanische Sache", z.B. kämpfte der gegenwärtige polnische Außenminister Sikorski 1986-89 auf der Mudschadhedin-Seite gegen die Sowjets8.

 

Demgegenüber hat die NATO bzw. der Westen beim Afghanistan-Krieg eine geradezu komfortable Position. Denn der Nachfolgestaat der Sowjetunion, Russland, unterstützt den NATO-Krieg aktiv. Der militärische Nachschub für die Bundeswehr rollt seit Jahren über russische Gleise. Auch die USA können seit Sommer 2009 die nördliche Nachschublinie durch Russland nutzen.

 

Obwohl keine feindliche Großmacht die Aufständischen unterstützt, gerät die NATO in den letzten Jahren in Afghanistan immer mehr in die Bredouille. Das internationale Forschungsinstitut Icos, das jedes Jahr Informationen über die Ausbreitung der afghanischen Aufständischen veröffentlicht, meldet diese Zahlen: 2007 kontrollierten die Aufständischen 54% der Provinzen, 2008 waren es 72% im Jahr 2009 sind gar 80 %9.

 

Norine MacDonald schreibt im Februar 2010 in der Foreign Affairs10: „Die militärische Strategie der Taliban ist erfolgreich gewesen und ihr territorialer Einfluss ist in der Tat in den letzten Jahren dramatisch gewachsen, indem sie nun den Süden und Osten dominieren und ihre Präsenz im Norden zügig verstärken. Die Taliban-Kräfte haben außerdem Kabul eingekesselt, wie die größeren Angriffe in der Hauptstadt selbst kürzlich bewiesen haben.“

 

Trotz der Rekordzahlen an Truppen fordern die Krieg führenden Militärs noch mehr Soldaten. 2007 rechnete der Bundeswehr-General Kasdorf vor: "Wir haben zu wenige Kräfte und nicht die beste Ausstattung", sagte Kasdorf in Kabul. Einige tausend zusätzliche Soldaten könnten einen großen Unterschied machen. Die Isaf habe schon jetzt zu wenige Truppen und sei auf jede Unterstützung angewiesen, sagte er. "Da sind 40.000 Soldaten in der Tat ganz eng genäht", kommentierte Kasdorf die derzeitige Isaf-Stärke. Der General sagte, gemessen am Kosovo-Einsatz müssten in Afghanistan 800.000 Soldaten stationiert werden." 11

 

Die aktuelle US-Militärdoktrin zur Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency/COIN) veranschlagt „zur erfolgreichen Bekämpfung von Aufständischen ... ein Aufgebot von einer Sicherheitskraft pro 50 Zivilisten. Auf die Bevölkerung Afghanistans umgerechnet würden 650.000 gut ausgebildete Soldaten und Polizisten benötigt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass nur in ungefähr 50 Prozent des afghanischen Territoriums Einsätze gegen Aufständische überhaupt notwendig sind..., werden immer noch 300.000 Sicherheitskräfte gebraucht." 12 Da die Aufständischen jedoch sogar 80% er Provinzen kontrollieren, wäre die notwenige Zielzahl 520.000.

 

Der aktuelle ISAF-Kommandeur, General McChrystal, als praktischer Anwender der Doktrin bescheidet sich mit einer Größenordnung von 400.00013. Wie viele Sicherheitskräfte hat er zurzeit real zur Verfügung? Neben den etwa 150.000 ISAF- und US-Soldaten kämpfen nach NATO-Angaben 100.130 afghanische Soldaten und 96.800 Polizisten14 auf Seiten des Westens. Zu diesen ca. 350.000 Sicherheitskräften kommen noch die Söldner bzw. „Mitarbeiter privater Militärdienstleister" im Auftrag vor allem der US-Streitkräfte. Laut einer Untersuchung der US-amerikanischen Congressional Research Centers sind die Privaten auf 130.000 bis 160.000 Mann zu beziffern15. In Summe bekämpfen also 480.000 bis 510.000 Sicherheitskräfte die afghanischen Aufständischen. Insofern hat McChrystal gemessen an seinen eigenen Vorgaben genügend militärisches Personal zur Verfügung.

 

Die Sowjets konnten in den 80er Jahren jedoch auf eine höhere Anzahl afghanischer Soldaten und Milizen zurückgreifen (458.900 Mann), so dass sie 1989 mit fast 600.000 afghanischen Sicherheitskräften und Soldaten der Roten Armee Krieg führte16.

 

Allerdings macht der NATO die militärische Qualität der afghanischen Truppen zu schaffen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet in diesem Zusammenhang im Februar 2010: „Wiederholt kommt es vor, dass Angehörige der afghanischen Armee für Tage oder Wochen verschwinden – vor allem im Sommer, wenn die Ernteansteht. Die Abwesenheitsquote in den Einheiten beträgt mitunter bis zu 40 Prozent, klagt ein Ausbilder. Als besonders gravierend beschreibt der Soldat die Korruption in den Sicherheitskräften. So lasse der Geheimdienst NDS gefangene Taliban gegen Lösegeld laufen, ‚so dass sie uns auf dem Schlachtfeld schon bald erneut begegnen'. Immer bedrohlichere Ausmaße nimmt die Unterwanderung der Sicherheitskräfte durch Aufständische an. Anfang Februar erschoss in einer Polizeistation in Mazar-i-Sharif ein Taliban in Polizeiuniform zwei schwedische Isaf-Soldaten." 17

 

Londoner Konferenz als „Neuansatz für Afghanistan“

 

Die deutschen Bundesregierung behauptet in ihrem Bundestagsantrag vom 11.2.2010 in London habe die „internationale Staatengemeinschaft... einen Neuansatz für Afghanistan beschlossen, der unter dem Leitmotiv der ‚Übergabe in Verantwortung’ steht.“ Dies wird von den Fakten nicht gestützt. Im Wesentlichen recycelte die Konferenz Aktionsvorschläge, die seit Jahren in Afghanistan verfolgt werden.

 

Auch das medial stark beachtete Aussteigerprogramm für die Taliban-„Mitläufer“ ist prinzipiell nicht neu. Die Grundidee: „Durch die international finanzierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sollen sie vom Schlachtfeld gelockt werden.“18 Dafür sollen 360 Mio. € zur Verfügung stehen. In Deutschland hat Außenminister Westerwelle sich die Idee sehr stark zu Eigen gemacht, 50 Mio. € aus Deutschland zugesagt und entsprechende Häme auf sich gezogen („Abwrackprämie für Taliban“). Insbesondere britische Militärs diskutieren die orginelle Idee schon länger und haben erste praktische Erfahrungen zu bieten. Ein Generalmajor Paul Newton wird so zitiert: “Die beste Waffe bei Aufstandsbekämpfung ist, nicht zu schießen. In anderen Worten: Verwende kurzfristig Taschen voller Gold, um die Sicherheitsdynamiken zu verändern. Aber Du beschmeißt sie nicht einfach mit Gold, das muss sinnvoll gemacht werden.“19 Adam Holloway, ein früherer Armeeoffizier und konservativer Parlamentsabgeordneter: “Ich weiß, dass eine Anzahl Generäle in 2006 dachten, es sei besser, Leute in den Stammesgebieten rauszukaufen, als eine britische Brigade nach Helmand zu schicken. Jetzt ist es zu spät.”20 Im Oktober stellte die US-Regierung aus dem 1,3 Mrd $ umfassenden “Commander’s Emergency Response Program” Mittel zur Verfügung, um jene, die den Kampf aufgeben in die afghanische Gesellschaft zu integrieren.21 Fakt ist allerdings, dass die Idee in London das erste Mal größere internationale Unterstützung erfuhr.

 

Eher in einem Nebensatz deutet die Abschlusserklärung der Londoner Konferenz das Elend der Menschen in Afghanistan an: “Die Konferenzparteien wissen um den Ernst der humanitären Lage in verschiedenen Teilen des Landes, insbesondere die unsichere Ernährungslage. Die Konferenzparteien ersuchten die internationale Gemeinschaft um Unterstützung des Humanitären Aktionsplans 2010.”22 Wenige Wochen vor der Konferenz konnte man in der medizinischen Fachzeitung The Lancet23 einen Aufsatz mit folgenden Zahlen lesen: 25 mal so viele Menschen Sterben in Afghanistan an Armut und Unterernährung, als an den Folgen des Konflikts, 35 % der Haushalte verfügen nicht über ausreichend Nahrung, die Hälfte aller Kinder unter sechs Jahren ist unterernährt, 300.000 Kinder sterben jedes Jahr an Unterernährung oder Krankheiten, wobei der Hunger Krankheiten begünstigt. Der Autor Samuel Loewenberg verweist auf das tatsächliche Verhältnis von militärischer und ziviler Hilfe: Nur 1% der Mittel, die die USA für den militärischen Einsatz verwenden, setzen sie für die Förderung der Landwirtschaft und damit die Sicherung der Lebensgrundlagen der Menschen ein.

  

Die Aufstockung der zivilen Hilfe, die in London durchaus gewürdigt wurde, kann bei Kriegseinsätzen nicht isoliert betrachtet werden. Nicht umsonst widmet die NATO in Afghanistan der zivil-militärischen Zusammenarbeit besondere Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang bedauerte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen jüngst auf der Münchener Sicherheitskonferenz, dass in Afghanistan nach wie vor viele zivile Organisationen zu wenig Bereitschaft an den Tag legen würden, mit dem Militär zu kooperieren. Deswegen las er ihnen gründlich die Leviten: "Sie planen nicht zusammen, sie arbeiten nicht zusammen, sie meiden das Militär, um ihre Unabhängigkeit zu betonen. Ein Ende dieser Zersplitterung erfordert eine wirkliche Kulturrevolution, die mit herkömmlichem Denken bricht."24 Die Resultate einer Strategie der Vernetzten Sicherheit hat der der Politikwissenschaftler Conrad Schetter25 wie folgt beschrieben: Entwicklungsorganisationen werden nun Teil der Intervention, ohne sich dessen erwehren zu können, weil sie von staatlichen Finanzmitteln abhängig sind, und werden als solche wahrgenommen. Es geht nicht darum, “die Lebensbedingungen der am meisten betroffenen Bevölkerungsgruppen zu verbessern, vielmehr richtet sich Unterstützung zunächst an jene, die für die Sicherheit der zivilen und militärischen Interventionskräfte von größtem Belang sind” also örtliche Machthaber und schließlich verfolgt zivil-militärische Zusammenarbeit nicht in erster Linie humanitäre Ziele, sondern will die Bevölkerung beeinflussen und die Informationsgewinnung erleichtern.

 

Der Einsatz von Entwicklungshilfe in Afghanistan wurde übrigens bereits vor 2001 erfunden: „Moskau hatte während der Besatzung mit Entwicklungsprojekten versucht, die Herzen der Afghanen zu gewinnen.“ [2]

 

 

Der Sieg der Realpolitik: einfach die Ziele ändern

 

Mit Obama hat die Realpolitik sich im Weißen Haus durchgesetzt. Die idealistische Regime Change Herangehensweise der Ära Bush ist nicht länger angesagt. Obama hatte bereits am 27.3.2009 die Ziele in Afghanistan neu und bescheidener definiert: „Ich möchte, dass die Amerikaner verstehen, dass wir ein klares und scharf umrissenes Ziel haben: die Al Kaida in Pakistan und Afghanistan zu behindern, zu zerschlagen und zu besiegen und ihre Rückkehr in beide Länder in Zukunft zu verhindern. Dieses Ziel muss erreicht werden.“26 Genau das definierte er am 1.12.2009 in seiner West Point Rede als oberstes Ziel“: „al-Qaida in Afghanistan und Pakistan zu stören, zu zerschlagen und zu vernichten, und zu verhindern, dass es in Zukunft Amerika und unsere Verbündeten bedrohen kann... Wir müssen al-Qaida einen sichereren Zufluchtsort verweigern. Wir müssen die Schlagkraft der Taliban reduzieren und ihnen die Fähigkeit nehmen, die Regierung zu stürzen. Und wir müssen die Kapazitäten der afghanischen Sicherheitskräfte und Regierung stärken, so dass sie federführend die Verantwortung für die Zukunft Afghanistans übernehmen können.“27 Menschenrechte und Mädchenschulen kamen in seiner Rede nicht vor.

 

In Deutschland betreibt an erster Stelle Minister Guttenberg die Wende zur Realpolitik in Afghanistan. Nach seiner Definition heißt „Erfolg in Afghanistan... nicht, eine Demokratie nach westlichem Muster herzustellen.“28 Und: „Man wird dort nie eine Westminster-Demokratie nach Idealvorstellungen herstellen... Ohne zynisch zu werden: Gewisse Dinge werden sich nicht erreichen lassen. Das anzuerkennen fällt uns allen ... schwer, weil wir gerne die reine Lehre definieren.“29 Am 12.2.2010 wird er in einer Phönix-Sendung noch deutlicher: Es sei Ziel des deutschen Engagements, dass Afghanistan kein Rückzugsgebiet für Terroristen sei und fügt hinzu, „es sei selbstkritisch (zu) sagen: Haben wir nicht Gründe nachgeschoben, um in schwierigen Momenten auch mal eine Anerkennung unserer Bevölkerung zu bekommen? Natürlich ist es unbestreitbar wichtig, dass man Kindern hilft, dass man Frauen hilft in ihren Rechten und all jenen. … Aber das waren Gründe, die nachgeschoben wurden.“30 Da ist es nur konsequent, dass in dem aktuellen Antrag der Bundesregierung zur Ausweitung des Afghanistan-Krieges das Thema „Menschenrechte“ nicht mehr vorkommt.

 

Ziel des Westens in Afghanistan ist jetzt, die Aufständischen auf dem Schlachtfeld so zu schwächen, dass eine günstige Verhandlungsposition für die Karsai-Regierung bei den Gesprächen mit den Taliban erreicht wird. Denn – das wusste Obama schon vor einem Jahr – gewinnen lässt sich der Afghanistan-Krieg nicht. Das Kriegsziel reduziert sich darauf, dass die Welt von Afghanistan aus in Ruhe gelassen wird. Oder um den deutschen Verteidgungsminister zu zitieren: “Jetzt mag man mir Zynismus vorwerfen, aber wir müssen diese Zielsetzungen auf ein realistisches Maß herunterschrauben, um überhaupt über einen Erfolg sprechen zu können.”31

 

Zwar sind die Ziele abgespeckt, dennoch erfordern sie aus Sicht der NATO-Staaten eine erhebliche Truppenaufstockung. Zu dieser trägt Deutschland mit 850 Soldaten bei. Die ehemaligen Regierungsparteien SPD und GRÜNE zeigen angesichts der fehlenden Unterstützung für den Krieg in der Bevölkerung erste Absatzbewegungen, aber tragen den Kriegseinsatz mehrheitlich grundsätzlich weiter mit – auch wenn immer mehr ihrer Abgeordneten den Regierungsanträgen nicht mehr zustimmen. Unterm Strich ist die SPD mit dem konkreten Abzugsdatum 2015 inhaltlich weiter als die GRÜNE Partei, die auf ihrem Rostocker Parteitag im Oktober 2009 noch ausdrücklich bekräftigte: „Ein verantwortlicher Abzug braucht Zeit und eine gründliche Vorbereitung. Das geht nicht in wenigen Monaten. Ein Sofortabzug […]  wäre ein Brandbeschleuniger sondergleichen…“ Deswegen blieb man hübsch unverbindlich: „Im Rahmen einer zivilen Aufbauoffensive muss aber auch der schrittweise Abzug der internationalen Truppen in die Wege geleitet werden. Dies wollen wir in der jetzt beginnenden Legislaturperiode 2009 bis 2013 tun.“ [3] Wann der Abzug beendet sein könnte, wird nicht verraten.

 

Ob militärische Kalkül der NATO aufgeht, wird sich zeigen. Klar ist aber, dass die zusätzlichen Soldaten nicht zum Kämpfen nach Afghanistan geschickt werden. Die Opferzahlen werden weiter steigen, bei den westlichen Truppen, bei den Aufständischen und bei der Zivilbevölkerung. Auch die veränderte militärische Taktik der westlichen Truppen (weniger Luftangriffe, raus aus den Camps und mehr Militäroffensiven) wird immer wieder zivile Opfer fordern. Das hat sich gerade im Februar bei der NATO-Operation in Helmand gezeigt. Gerade im Norden werden die Kämpfe zunehmen, denn ein erheblicher Teil des ISAF-Nachschubs erfolgt inzwischen über die Nordroute. Deswegen sind jetzt 5.000 US-Soldaten dem Bundeswehr-Kommando im Norden zugeteilt worden. Im Moment werden zwar noch die Nebelkerzen gezündet, dass mehr Truppen = mehr Ausbildung afghanischer Kräfte, also weniger Kampfeinsatz bedeuten würde. Ein Gutachten der SWP gibt jedoch zu bedenken: „Eine Unterscheidung von Kampf- und Ausbildungstruppen ist... schwierig.“32 US-Senator McCain, ein Kenner der Kriegsmaterie, prognostiziert: „Wir werden ein hartes Jahr 2010 haben – das härteste bisher... Das müssen wir unseren Alliierten sagen: Wir werden mehr Verluste haben.“33

In den ersten zwei Monaten 2010 hat sich die Prognose schon bestätigt: Gegenüber dem Vorjahreszeitraum verdoppelte sich die Zahl der gefallenen westlichen Soldaten von 49 in 2009 auf 91 [4] in 2010. Auf das Gesamtjahr bezogen müsste entsprechend mit über 1.000 Gefallenen auf westlicher Seite gerechnet werden.

 

Hamburg/Münster 23.02.2010

www.gruene-friedensinitiative.de

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Kontakt:

Uli Cremer 0160 / 81 21 622

cremer@gruene-friedensinitiative.de

 

Wilhelm Achelpöhler 0171 / 17 17 392

achelpoehler@gruene-friedensinitiative.de

 



[1] Interview in: DIE ZEIT 28.1.2010 „Das ist noch mal eine echte Chance“

[2] FAZ 6.2.2010, „Schwimmen ohne Wasser“

[3] http://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/BDK09/BDK_Rostock_Final/F%C3%BCr_eine_verantwortliche_Afghanistanpolitik.pdf

[4] 91 waren es bereits am 22.2.2010, Quelle: http://icasualties.org/OEF/index.aspx



1 http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Afghanistan/bt-mandat2006.pdf

2 http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/AfghanistanZentralasien/AktuelleArtikel/100128-afghanistankonferenz-london-cntd,navCtx=21914.html

3http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/obama-afgh-dt.html

4 http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/obama-afgh-dt.html

5 Ebenda

6 http://www.nato.int/cps/en/natolive/news_59701.htm

7 Hansen, Sven: Und täglich grüsst das Murmeltier, in http://www.taz.de, 29.01.2010

9 http://www.icosgroup.net/

10 Norine MacDonald: Is Operation Moshtarak a fool’s mission? - http://afpak.foreignpolicy.com/posts/2010/02/08/is_operation_moshtarak_a_fool_s_mission - gefunden 17.02.2010

11http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID7019792_TYP6_THE6760856_NAV_REF1_BAB,00.html

12 Stephen Biddle: Kein Abzug aus Afghanistan, IP Juli/August 2009, S.94

13 Stanley McChrystal: Commander’s Initial Assessment 30 August 2009, Annex G: Afghan National Security Force (ANSF) Growth and Acceleration, Page G-1; INK"http://media.washingtonpost.com/wp-srv/politics/documents/Assessment_Redacted_092109.pdf"http://media.washingtonpost.com/wp-srv/politics/documents/Assessment_Redacted_092109.pdf - gefunden 4.10.2009

14 NATO-Angabe laut: http://www.nato.int/isaf/docu/epub/pdf/placemat.pdf - gefunden 4.10.2009

15 zitiert nach: Marie-Dominique Charlier: Blackwater und Konsorten, in: Le Monde diplomatique, Februar 2010, S.17

16 Lühr Henken: USA und NATO: „Auf der ganzen Linie gescheitert“, http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Afghanistan/henken2.html

17 Marco Seliger: Rotwein für die afghanischen Kameraden, FAZ 16.02.2010, S.3

18 http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,674678,00.html

20 Ebenda

21New York Times 27.11.2009 http://www.nytimes.com/2009/11/28/world/asia/28militias.html?scp=1&sq=defense%20appropriations%20bill%20taliban&st=cse

22.http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/AfghanistanZentralasien/AktuelleArtikel/100128-communique.pdf

23. www.thelancet.com Vol 374 October 31, 2009

24 zitiert nach: Jürgen Wagner: “Alle Jahre wieder: Säbelrasseln auf der Münchener Sicherheitskonferenz http://www.imi-online.de/2010.php?id=2074

25.Schetter “Militärische Intervention: Humanität oder Durchsetzung von Eigeninteressen?” in: Chiari/Pahl Auslandseinsätze der Bundeswehr (Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes) S. 207f

http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/meuaedbwwww.pdf

27 http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/obama-afgh-dt.html

28 Guttenberg im FAZ-Interview 25.01.2010 „Afghanische Sicherheitskräfte in der Fläche ausbilden“

29 Interview in: DIE ZEIT 28.1.2010 „Das ist noch mal eine echte Chance“

30 Phönix-Sendung:“66. FORUM PARISER PLATZ Deutschland im Krieg? – Die Bundeswehr im Auslandseinsatz”, zitiert nach: http://blog.gruene-friedensinitiative.de/

31Vgl Fn 30 http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2010/02/12/drk_20100212_1907_a3249873.mp3

32 SWP Aktuell 8, Januar 2010

33 FAZ 8.2.2010 „McCain: 2010 wird das bisher härteste Jahr in Afghanistan“