Die Krim und die NATO-Präsenz

Von Uli Cremer (aktualisiert 2.4.2014)

Mit Ursula von der Leyen machte sich ein erstes deutsches Regierungsmitglied in der Ukraine-Krise für die militärische Mobilmachung der NATO stark. Die Ministerin verlangte angesichts der Annexion der Krim durch Russland: »Jetzt ist für die Bündnispartner an den Außengrenzen wichtig, dass die Nato Präsenz zeigt«[i] Gleichzeitig warf die Bundesregierung Russland die Verlegung von Truppen an die westliche Grenze vor: »“Eine Massierung der Truppen in dieser Region kann nicht als Bemühung um Entspannung verstanden werden“, sagte Seibert.«[ii] Dabei stützte sie sich auf Äußerungen des Nato-Oberkommandeur Breedlove. Dieser wurde am 23.3.2014 in der FAZ so zitiert: »Die Streitmacht, die jetzt im Osten an der ukrainischen Grenze ist, ist sehr, sehr groß und sehr, sehr einsatzbereit«. Sein Schreckensszenario:
Diese Truppen könnten in die Ostukraine oder durch die gesamte Ukraine bis nach Transnistrien (eine de-facto von Moldawien abgespaltete Teilrepublik, die seit 1992 von russischen Truppen abgesichert wird) vorstoßen. Später tauchen auch Zahlen in den Medien auf. Die Personalangaben reichen von 20.000 (US-Geheimdienst) bis 100.000 (ukrainische de-facto-Regierung)[iii]. Die russische Seite dementiert[iv]. Vor dem Hintergrund dieser Quellenlage behauptet die deutsche Regierung Ende März, Putin habe Merkel am Telefon eine Reduzierung der Truppen versprochen. Später bestätigt das russische Verteidigungsministerium die Rückverlegung eines motorisierten Infanteriebataillons (also etwas 1.000 Mann).[v] Steinmeier wertet das als kleines Signal der Entspannung. Nato-Generalsekretär Rasmussen widerspricht: »“Leider kann ich nicht bestätigen, dass Russland seine Truppen zurückzieht“«. (SZ 1.4.2014)

Es bleibt völlig unklar, was von Russland eigentlich genau auf welcher Grundlage verlangt wird. Westliche Beweise (z.B. Satellitenaufnahmen, die es ja geben soll) sind bisher nicht vorgelegt worden, so dass wohl politische Stimmungsmache das treibende Motiv ist. Von der früheren NATO-Einschätzung,  Russland sei zu „großen konventionellen Operationen nicht fähig“ ist in diesen Tagen nicht mehr die Rede.[vi]

Es ist nicht zu übersehen: Der militärische Faktor wird nach und nach in die Debatte um die Ukraine-Krise eingeführt – aller Beteuerungen zum Trotz, dass es keine militärische Lösung geben könne. Oder besser gesagt: die unverlangten Dementis führen die militärische Komponente in die Diskussion ein. Damit wird die NATO als westlicher Militärpakt wichtiger Gegenstand der Debatten.

Fragen wir uns also vor diesem Hintergrund: Wie ist es um das Verhältnis zwischen NATO und Russland bestellt?

NATO-Osterweiterung = militärische Bedrohung Russlands?

Seitens derjenigen, die (auch) dem Westen Verantwortung an der Zuspitzung der Lage geben,  wird gern und häufig auf die Ausdehnung der NATO nach Osten als Ursache für das russische Handeln verwiesen. Während sich der Warschauer Pakt 1991 aufgelöst habe, habe die NATO nicht nur weiterbestanden, sondern habe neue Mitglieder aufgenommen. So wuchs die NATO von 16 auf 28 Mitgliedsstaaten an. Sogar die drei baltischen Staaten, ehemalige Sowjetrepubliken gehören nun zur NATO.

Putin sagte in seiner Münchener Rede von 2007 die NATO-Erweiterung sei »ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt.«[vii] Für ihn handelte es sich also nicht um eine militärische Bedrohung. Das wäre nämlich ziemlicher Unsinn, und zwar aus drei Gründen:

1)   Die militärischen Potentiale der NATO des Kalten Krieges waren gegen den Warschauer Pakt gerichtet. Das war die Alte NATO, nennen wir sie NATO 1.0. Seit Beginn der 1990er Jahre ist jedoch eine Neue NATO, nennen wir sie NATO 2.0, geschaffen worden. Sinn sind nunmehr Militärinterventionen, also Einsätze der NATO außerhalb der NATO-Außengrenzen (z.B. Kosovo-Krieg 1999), im Wesentlichen außerhalb Europas. Der intensivste Kriegseinsatz findet seit 2003 in Afghanistan statt. Statt neue Waffen für einen eventuellen Krieg gegen Russland zu beschaffen, stellte die NATO vorrangig auf schnell verlegbare Expeditionstruppen um. Die Manöverszenarien der NATO Response Force spielten nicht am Ural, sondern beinhalteten Einsätze gegen kleine Staaten in Afrika oder Asien. Die neuen NATO-Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa traten der NATO 2.0 bei und merkten das spätestens, als sie die ersten Truppen nach Afghanistan schickten.

2)   Die NATO errichtete in den Beitrittsländern keine relevanten Stützpunkte. Auch die 5.000 in Rumänien und Bulgarien stationierten US-Soldaten wären „für einen Überraschungsangriff auf Russland… gar nicht geeignet“. Vielmehr sind diese „für Einsätze außerhalb des KSE-Bereichs“[viii] vorgesehen.

3)   Die NATO 2.0 verbündete sich bereits in den 1990er Jahren mit Russland, das der so genannten Partnerschaft für den Frieden beitrat. Ein NATO-Russland-Rat wurde gebildet, auch wenn dieser zwischenzeitlich immer, wenn man sich gerade wieder einmal stritt, suspendiert wurde. NATO und Russland hielten gemeinsame Manöver ab. Und nicht zuletzt unterstützte Russland den Afghanistan-Krieg von Beginn an. Dabei wurde unterhalb der Ebene der Beteiligung russischer Truppen alle mögliche Hilfe gewährt (insbesondere logistische).

Insofern ist auch die Charakterisierung der NATO-Osterweiterungen als „Eindämmungspolitik“, die in NATO-kritischen Kreisen üblich ist, unscharf. Im Kalten Krieg buchstabierte sich Eindämmung hauptsächlich militärisch. Militärisch eindämmen kann man jedoch nur, wenn man auch die entsprechende militärische Infrastruktur bereitstellt. Aber das hat die NATO in Hinblick auf Russland aktuell nicht. Entsprechend geht es um politische Eindämmung, die prinzipiell natürlich militärisch flankiert werden kann, aber das ist aktuell nicht der Fall. Oder auch ökonomisch, indem man z.B. die Ukraine wirtschaftlich in die EU-Einflusszone eingliedert.

Die Forderung, das militärische „Defizit“ zu beheben, hat von der Leyen in ihre Äußerung nach NATO-Präsenz an den Außengrenzen gekleidet. Letztlich ginge es dabei um ein gigantisches Aufrüstungsprogramm. Die finanzielle Dimension einer militärischen Eindämmung wäre enorm: Eine dem Kalten Krieg vergleichbare „Infrastruktur an den heutigen östlichen Außengrenzen der Nato aufzubauen dürfte Hunderte von Milliarden Euro kosten.“ [ix] Die Militärhaushalte müssten geradezu explodieren. Aber es wären Investitionen in militärische Projekte, die für Interventionen in Ländern des Südens größtenteils unbrauchbar wären. Einen Militärstützpunkt in Estland kann man nicht für eine Intervention im Sudan oder in Sierra Leone gebrauchen. Statt in die NATO 2.0 würde in die NATO 1.0 investiert! Ähnlich sinnlos wäre aus militäreffizienter Sicht die Wiedereinführung bzw. Wieder-in-Kraft-Setzung der Wehrpflicht in Deutschland, wie sie in den letzten Tagen von Talkshowgästen oder interviewten „Experten“ vorgeschlagen wird.

NATO-Truppen an die eigene Außengrenze zu verlegen, ist das Eine. Aber damit nimmt man natürlich in der Ukraine selbst keinen Einfluss. Und darum geht es ja letztlich, denn eine Bedrohung der NATO durch Russland lässt sich nicht ernsthaft behaupten. Auch wenn der Ukraine die Mitgliedschaft 2008 seitens der NATO in Aussicht gestellt wurde (ohne einen konkreten Termin zu nennen), so ist die Ukraine gegenwärtig nun einmal kein NATO-Mitglied. Insofern wäre der Einsatz von NATO-Personal in Kiew oder Donezk natürlich heikel. Aber es gibt auch dafür einen Ausweg: Man kann wie in Afghanistan oder Irak massenhaft „zur Ergänzung“ geschehen auf private Söldner ausweichen. Das Anheuern von Söldnern ist für die USA und andere NATO-Staaten seit 2001 ein beliebtes Mittel geworden. Auch in der Ukraine ist offenbar bereits Personal der Firma Greystone, einer Tochterfirma von Academi (die früher Blackwater, dann Xe Services hieß) tätig – wer auch immer die Rechnungen im Einzelnen begleicht.[x]

Krisengewinnler und Trittbrettfahrer

Ähnlich wie der 11.9.2001 in den USA Anlass war, alle möglichen und unmöglichen Rüstungsprojekte, die sich die militärische Community wünschte, anzugehen und zu finanzieren, könnten im Windschatten des Ukraine-Konflikts insbesondere in Westeuropa die Militäretats wieder kräftig angehoben werden. Insofern nahm Obama »die Krise zum Anlass«, (von Friedensnobelpreisträger zu Friedensnobelpreisträger quasi) »die Europäer noch einmal zu höheren Verteidigungsausgaben aufzurufen. „Unsere  Freiheit gibt es nicht umsonst“, sagte er. Die Ereignisse in der Ukraine  zeigten, dass die Nato glaubwürdige Streitkräfte und eine effektive  Abschreckung benötige.«[xi] Was am Ende auch immer im Einzelnen an Waffen angeschafft wird – der „Markt“ antizipiert das bereits seit einigen Monaten: Der Rüstungsaktienindex NYSE Arca Defense hat sich gegenüber Anfang 2013 schon fast verdoppelt.

Da die Ukraine praktisch insolvent ist, müssten natürlich auch die dortigen Aufrüstungspläne letztlich vom Westen finanziert werden. Das wird möglicherweise auch nicht billig: So zitierte die russische Nachrichtenagentur bereits Premierminister Jazenjuk: »Faktisch müssen wir den Betrag, der im Haushaltsgesetz vorgesehen ist, auf das 10fache steigern«.[xii] 2012 betrugen die ukrainischen Militärausgaben 1,9 Mrd. US-$[xiii], demnach ginge es um Peanuts von ca. 17 Mrd. US-$ – ein Betrag der in den westlichen Finanzhilfen zur „Stabilisierung“ offenbar nicht eingepreist ist. Denn diese liegen deutlich darunter. Insofern wird sich die ukrainische De-facto-Regierung nur einen kleinen Teil ihrer militärischen Wünsche erfüllen können. Auch wenn die Ukraine in den letzten Jahren eifriger Teilnehmer an westlichen Interventionen war, dürften die von Kiew beabsichtigten Militärinvestitionen eher in die so genannte Landesverteidigung gehen und nicht die Interventionsfähigkeiten erhöhen. Das dürfte wiederum die Bereitschaft der westlichen Mächte in Sachen Rüstungsfinanzhilfe bremsen. Es sei nebenbei daran erinnert, dass die damalige ukrainische Regierung 2003 1650 Soldaten samt Gerät für den völkerrechtswidrigen Irak-Krieg im Rahmen der „Koalition der Willigen“ zur Verfügung stellte[xiv]. Ukrainischer Premierminister war damals niemand anders als ein gewisser Janukowitsch.

Der politische Vertrauensverlust auf russischer Seite

Aber bei der NATO-Osterweiterung gibt es natürlich auch eine politische Dimension. Putin fragte  in seiner 2007er Rede: »Gegen wen richtet sich diese Erweiterung?« Militärisch gegen den Süden, nicht gegen Russland. Wesentlicher Einwand Putins war insofern 2007 der „politische Vertrauensverlust“. Insofern klagte er an: »Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben? Wo sind jetzt diese Erklärungen? An sie erinnert man sich nicht einmal mehr. Doch ich erlaube mir, vor diesem Auditorium daran zu erinnern, was gesagt wurde. Ich möchte ein Zitat von einem Auftritt des Generalsekretärs der NATO, Herrn Wörner, am 17. Mai 1990 in Brüssel bringen. Damals sagte er: „Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“ Wo sind diese Garantien?«[xv] Gerade in den letzten Wochen findet sich in jeder Talkshow, die über die Ukraine diskutiert, jemand, der zurückfragt: Welche Garantien? Denn nichts ist schriftlich und verbindlich festgehalten. Die Sowjetunion und den Warschauer Pakt gibt es nicht mehr. Und in der Tat hatte auch der hellsichtigste NATO-Stratege 1990 noch kein Konzept für die Osterweiterung der NATO, das er mit Gorbatschow oder später dem russischen Präsidenten Jelzin hätte diskutieren können. Offenbar fehlte damals auch den Regierenden in Moskau die entsprechende Furcht, sonst hätte man z.B. nach Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation noch schnell eine schriftliche Vereinbarung verlangen können.

Als die ersten neuen Mitglieder in die NATO 2.0 1997 dann eingeladen und später aufgenommen wurden, begleitete die NATO dies nicht mit der Versicherung, dass nun aber Schluss sei mit der NATO-Mitgliederwerbung. Entsprechend eines geänderten Kräfteverhältnisses wurde eine neu gewonnene Einflusszone politisch abgesichert. Dabei kam dem Westen seine Softpower zu Gute: Die Beitrittsstaaten hatten den großen Wunsch, bei der NATO mitzumachen. Zumal andere Sicherheitsgarantien in Form eines kollektiven Sicherheitssystems (z.B. durch eine entsprechend aufgewertete OSZE) vom Westen verweigert wurden. Zudem stellte der US-Präsident Clinton der russischen Regierung langfristig eine NATO-Mitgliedschaft in Aussicht. (Horst Teltschik, ehemaliger Leiter der „Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik“, bestätigt diesen Vorgang: „Der amerikanische Präsident Clinton hatte schon Präsident Jelzin mündlich und in einem Brief vorgeschlagen, dass Russland Mitglied der Nato werde. Jelzin soll einen solchen Schritt als verfrüht zurückgewiesen haben.“[xvi]) Am Ende blieb Russland nichts Anderes übrig, als mit der NATO eine „Grundakte“ zu vereinbaren und sich fortan im NATO-Russland-Rat über die zuvor gefällten NATO-Entscheidungen informieren zu lassen.

Wenig Vertrauen fördernd Richtung Russland war seitens der NATO in jedem Fall, dass diese seit 2000 die Ratifizierung des veränderten KSE-Abkommen (über Obergrenzen konventionelle Waffen in Europa) verweigerte, so dass auch Russland 2007 seine Ratifizierung des Abkommens suspendierte. Das ist auch heute noch der Zustand, so dass die NATO sich formal über behauptete russische Truppenmassierungen im Westen nicht einmal beschweren könnte.

Mit dem Kosovokrieg 1999 hatte die NATO Russland demonstriert, dass sie ihre militärischen Arsenale auch gegen den Willen Moskaus einzusetzen bereit ist.

Russische Vorschläge, die Raketenabwehr gemeinsam aufzubauen, wurden seitens der NATO ebenfalls zurückgewiesen. Stattdessen sollen bis 2018 NATO-Raketenabwehrstellungen in Osteuropa aufgebaut werden. Auch das ist politische Brüskierung, aber keine effiziente militärische Bedrohung Russlands, da dessen atomare Zweitschlagsfähigkeit durch die bisher geplanten Systeme nicht ausgehebelt werden kann.

Russische rote Linien

2008 versuchte die georgische Regierung die 16 Jahre schwelende Südossetien-Frage gewaltsam zu lösen. Südossetien war seit Anfang der 1990er Jahren Bestandteil der russischen Einflusszone, wenn auch formal Bestandteil des Staates Georgien. Georgien marschierte am 7.August in die Region ein, besetzte die Provinzhauptstadt Zchinwali, wurde dann aber von den wenigen russischen Truppen (die dort mit Zustimmung Georgiens stationiert waren)[xvii] und den südossetischen Milizen aufgehalten, so dass russische Verbände aus Nordossetien zur Verstärkung herangeführt werden konnten. Diese vertrieben die georgische Truppen aus der Region und stießen dann in georgisches Kernland vor. Ziel war dabei, militärische Stützpunkte Georgiens auszuschalten, um erneute Angriffe auf Südossetien technisch unmöglich zu machen. Die russische Flotte versenkte die gesamte georgische Flotte, bestehend aus 8 Schiffen. Die russische Luftwaffe zerstörte militärische Einrichtungen und strategische Infrastruktur im ganzen Land, ganz so wie es die NATO 1999 in Jugoslawien (Serbien) vorgemacht hatte. Die Anschaffungen Georgiens aus den 270 Millionen $ Militärhilfe der vorherigen Jahre (USA 2/3, Türkei 1/3) lösten sich buchstäblich in Rauch auf.[xviii] Südossetien erklärte sich (wie auch eine zweite Region: Abchasien) nach dem Vorbild Kosovos zum eigenständigen Staat, den außer Russland allerdings nur drei weitere anerkannten.

Das erste Mal hatte Russland sichtbar eine rote Linie gezogen. Die NATO hatte insoweit verstanden, als die Vorhaben, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen, erst einmal auf Eis gelegt wurden – nicht zuletzt auf Betreiben der deutschen Regierung, der an einem guten Verhältnis zu Russland gelegen war.

Die wirtschaftliche und politische Einbindung der Ukraine war aus Sicht des Westens nach der Regierungsübernahme Juschtschenkos 2004 auf einem guten Wege. Die Streitereien um Gaslieferungen und –preise vergifteten andererseits das Verhältnis Ukraine-Russland. Auch der Wahlsieg Janukowitschs 2010 stoppte die Verhandlungen über die stärkere Anbindung an den Westen nicht. Das EU-Assoziationsabkommen wurde ausgehandelt und mit der Umpolung der Gaspipelines begonnen, damit auch eine Versorgung aus westlicher Richtung möglich würde. Die Verweigerung der ukrainischen Unterschrift unter das EU-Abkommen vom November 2013 erwies sich als nicht nachhaltig. Präsident Janukowitsch wurde gestürzt und eine De-facto-Regierung unter Beteiligung der völkischen Swoboda gebildet.

Nunmehr gab Russland die Einbeziehung der Ukraine in die eigene „Eurasische Union“ verloren. Russland zog erneut eine rote Linie und besetzte die Krim. Ein Blitzreferendum wurde abgehalten, in dem eine große Mehrheit für einen Anschluss an Russland votierte; obschon juristisch äußerst fragwürdig manifestierte sich hier gewissermaßen territorial begrenzt russisch-nationalistische Softpower. Im Unterschied zu Südossetien wurde die Krim annektiert. Damit dokumentierte die russische Regierung, dass sie nun auch nicht mehr nach völkerrechtlichen Regeln spielt, wenn diese ihren Machtinteressen im Wege stehen. Es wird nicht einmal die übliche Etikette gewahrt, in der heutzutage westliche Staaten ihre geopolitischen Erfolge kleiden: Der Kosovo wurde als eigener de-facto-Staat etabliert, der eroberte Irak erhielt 2003 ein neues Regime, auch Grenada wurde 1983 durch die USA nicht annektiert, sondern nur politisch gefügig gemacht. Aus westlicher Sicht ist Annexion „retro“, ein Rückfall in das 19.Jahrhundert. Originell ist allerdings, den Vorwurf, Völkerrecht gebrochen zu haben, ausgerechnet aus dem Mund eines US-Präsidenten zu hören.

Kollateralnutzen der Krimannexion aus russischer Sicht ist, dass die Ukraine nun ähnlich wie Georgien durch „ungelöste Territorialkonflikte“ belastet ist und deswegen (aus bisheriger NATO-Sicht) eine NATO-Mitgliedschaft nicht realisiert werden kann.

Steigende Militäretats als Kollateralschaden

Offenbar ist das beidseitige politische Vertrauen zwischen den westlichen Regierungen und der russischen Regierung am Nullpunkt angekommen. Treffen werden abgesagt, Sanktionen werden verhängt. Am 1.4.2014 stellte die NATO die zivile und militärische Zusammenarbeit mit Russland ein. Aber droht im Rahmen der Ukraine-Krise heute tatsächlich eine militärische Zuspitzung? Das wäre sicherlich der Fall, wenn Russland à la Irakkrieg die Ukraine zwecks Regime Change besetzen oder in einzelne ostukrainische Gebiete einmarschieren würde. Entsprechende Absichten hat die russische Regierung bisher nicht kundgetan. In seiner Krim-Rede sagte Putin über die russisch sprechenden BewohnerInnen der Ukraine: »Russland wird ihre Interessen auch künftig politisch, diplomatisch und juristisch schützen.«[xix] Von militärisch ist gerade nicht die Rede. Die operativen Voraussetzungen wären schon deswegen erheblich schlechter, weil es keinen russischen Militärstützpunkt à la Sewastopol etwa in Donezk gibt.

Andersherum ist auch nicht erkennbar, dass die NATO militärisch substantiell mobil macht. Verlegungen von Flugzeugen oder kleinen Truppenteilen nach Polen oder ins Baltikum sind reine Symbolpolitik. Das gilt auch für geplante Manöver in der Ukraine. Insofern hat die im Westen vom Zaum gebrochene militärpolitische Debatte einen anderen Sinn: Es geht um militärpolitische Trittbrettfahrerei. Militärkreise versuchen den politischen Konflikt zu nutzen, um die Militäretats zu erhöhen, Waffen zu beschaffen und Truppenverbände aufzustellen, die gar nicht gegen Russland, sondern im Süden (z.B. in Afrika) eingesetzt werden können und sollen. Das ist die eigentliche Agenda. Als Kollateralschaden der Ukraine-Krise muss mit steigenden Militäretats gerechnet werden.

Uli Cremer (GRÜNE FRIEDENSINITIATIVE)

Hamburg, 2.4.2014

Lesetipp im Blog der GRÜNEN FRIEDENSINITIATIVE: Wegen Ukraine-Krise: NATO-Eigentor beim Afghanistan-Krieg

[viii] SWP Berlin, Hannes Adomeit / Frank Kupferschmidt: Russland und die Nato, März 2008, S.21

[ix] Busse, Nikolas, Krieg gegen Russland, 3.11.2008

[xvi] Horst Teltschik: Russland braucht keine Belehrungen, in: Frankfurter Allgemeine 7.5.2008, S.7

[xvii] Die in Südossetien von 1992 bis 2008 stationierten russischen Verbände werden als Friedenstruppen charakterisiert, denn sie waren mit Zustimmung Georgiens stationiert worden. Zum Hintergrund siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdossetien#Einsatz_einer_Friedenstruppe_1992

[xviii] Busse, Nikolas, Der Westen forscht nach Ursachen des Krieges in Georgien, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.09.2008, S.6

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