Die Ukraine-Krise als Chance für eine nachhaltige Europäische Sicherheitsarchitektur nutzen!

Kommentar zur Initiative „Für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik JETZT“[i]

Uli Cremer (17.11.2015)

Die durch den Ukrainekonflikt aktualisierte Erkenntnis, dass der Frieden in Europa 25 Jahre nach dem Ende der Blockkonfrontation kein Selbstgänger ist, hat im Herbst 2015 eine neue politische Formation „Für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik JETZT“[ii] zusammengebracht. Die TeilnehmerInnen reichen von der Sozialdemokratie über ChristInnen und klassische Friedensorganisationen bis hin zum Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft.

Fehlende GRÜNE

GRÜNE Namen sind nicht vertreten. Das ist kein Zufall, haben sich doch GRÜNE Partei und Bundestagsfraktion im Ukrainekonflikt einseitig für die Maidan-Bewegung und die Kiewer Übergangsregierung engagiert, ohne sich je von den völkischen Organisationen auf dem Maidan zu distanzieren oder später wenigstens die Absetzung der rechtsradikalen Minister zu verlangen. Die westliche Sanktionspolitik gegen Russland wurde nicht nur mitgetragen, sondern prominente GRÜNE Abgeordnete gehörten in Deutschland zu den EinpeitscherInnen. Als im Dezember 2014 der Appell „Wieder Krieg in Europa? – Nicht in unserem Namen“[iii] veröffentlicht wurde, kritisierten führende GRÜNE die UnterzeichnerInnen heftig. Die Fraktionsvorsitzende der GRÜNEN EU-Parlamentsfraktion, Rebecca Harms, schloss sich sogar dem Gegenaufruf „Friedenssicherung statt Expansionsbelohnung“[iv] an. Dieser fällt völlig undifferenziert das Urteil, die Ukraine sei „klar identifizierbares Opfer“ und Russland „eindeutiger Aggressor“. Dennoch behaupten die UnterzeichnerInnen, „deutsche OsteuropaexpertInnen“ zu sein. Der Kiewer Umsturz vom Februar 2014 ist für ihre Analyse nicht von Belang, die Luftangriffe Kiews auf die eigene Bevölkerung in der Ostukraine im Frühsommer 2014 (als Teil einer so genannten Anti-Terror-Operation) sind keine Verurteilung wert.

Kritische Stimmen z.B. aus dem Thinktank „Grüne Friedensinitiative“ gibt es jedoch auch. Aber sie konnten für ihre Position auf GRÜNEN Parteitagen bisher nur knapp 10% Unterstützung generieren.[v] Der Unmut war andererseits so groß, dass sich im Frühjahr 2015 ein Petra-Kelly-Kreis gründete, der an die friedenspolitischen Wurzeln der GRÜNEN anknüpfen wollte.

Wie in der Gesamtgesellschaft dominier(t)en im Ukrainekonflikt bei den GRÜNEN einseitige Schuldzuweisungen an Russland. Eine ernsthafte kritische Reflektion westlicher Fehler bzw. einer ganzen falschen Strategie unterblieb bisher. Dabei liegt auf der Hand, dass das westliche Modell eines Gemeinsamen Hauses Europa kein echtes gemeinsames Haus bedeutete. Vielmehr betrachtete sich die westliche Seite als Eigentümer und Bauherr des Hauses, der selbstverständlich auch die Hausordnung formulierte und auf ihre Einhaltung zu achten hatte. Russland durfte in dieses Haus als Mieter einziehen. Russische Gestaltungswünsche wurden ignoriert, und spätestens die Eingliederung der Krim wurde als Verstoß gegen die Hausordnung erachtet, die quasi die Kündigung des Mietverhältnisses in Form der Sanktionspolitik nach sich zog, so dass sich Russland nun nach einer neuen Bleibe weiter östlich umsieht.

Falsche sicherheitspolitische Weichenstellungen in den 1990er Jahren

Worin besteht die falsche westliche Strategie? Blicken wir 25 Jahre zurück. Damals trafen sich die VertreterInnen der europäischen Länder gefühlt jeden Tag, doch stets unter einem anderen „Sicherheits“-Firmenschild. Am Montag nannte sich die Versammlung KSZE, am Dienstag stand NATO-Kooperationsrat über dem Eingang, am Mittwoch folgte das WEU-Konsultationsforum, und die UNO gab es am Donnerstag dann auch noch. Am Freitag traf sich die Europäische Gemeinschaft, aber das war ein kleiner, exklusiver Club, bei dem nicht jeder Mitglied werden konnte; und dort wurde noch in erster Linie Wirtschaftspolitik gemacht. Später wurde sie zur EU.

Da für die NATO-Staaten nur die NATO-Lösung in Frage kam, machte diese das Rennen. Der NATO-Kooperationsrat wurde mit der Partnerschaft für den Frieden vertieft und erfuhr als „Euro-Atlantischer-Partnerschaftsrat“ einen Relaunch. Das WEU- Konsultationsforum verschied, die Westeuropäische Union selbst sollte später in der EU aufgehen. Die KSZE wurde in OSZE umbenannt und zu einer Wahlbeobachter-Organisation im östlichen Europa degradiert. Ihren vorerst letzten Auftritt als Sicherheitsorganisation hatte sie 1998/99 im Kosovo, bevor sie auch dort der NATO weichen musste.

Noch 1990 wollten Polen, die damalige CSFR und Ungarn nicht nur die Warschauer Vertragsorganisation (WVO), sondern auch den anderen Militärblock auflösen. Dem ehemaligen tschechischen Präsidenten V. Havel schwebte im April 1990 eine Art Auflösungsagentur für die Paktsysteme vor. Eingerichtet werden sollte eine Sicherheitskommission mit Sitz in Prag, bestehend aus allen KSZE-Mitgliedsstaaten. Unterstützt wurde diese Idee von der Sowjetunion und Frankreich, das ja auch damals der Militärorganisation der NATO nicht angehörte. Die Regierungen in Prag, Warschau oder Budapest begriffen schnell, dass Konzepte gemeinsamer Sicherheit nicht gefragt waren, sondern dass Sicherheit nur in der NATO, also auf Kosten Anderer bzw. gegen Andere (insbesondere Russland) zu haben war.

So wurde in den 1990er Jahren kein nachhaltiges gesamteuropäisches Sicherheitsmodell geschaffen. Die jahrelange Schwäche Russlands überdeckte jedoch das Problem. Die NATO nahm neue Mitglieder auf, speiste Russland mit einer unverbindlichen Grundakte sowie einem Dialogforum ab und schuf neue Vorfeldorganisationen, die Länder aus Afrika oder dem asiatischen Raum an die NATO banden. Der potentielle NATO-Einsatzraum wurde auf den ganzen Globus ausgeweitet, die NATO führte Kriege auf dem Balkan, in Afghanistan und Libyen.

Sanktionen und neuer Rüstungswettlauf

Auch wenn sich der Ukrainekrieg seit September 2015 ein wenig beruhigt hat, ist der Waffenstillstand nicht nachhaltig stabilisiert, die politischen Verabredungen von Minsk nicht umgesetzt. Die westlichen Sanktionen sowie die russischen Gegensanktionen werden nicht aufgegeben sondern verlängert. Die Militäretats sind schon angehoben worden, ein neuer Rüstungswettlauf nimmt Fahrt auf. Mit dem Hinweis auf Russland verstärkt die NATO ihre Expeditionstruppen quantitativ und qualitativ (Stichwort: „Speerspitze“[vi]). Aber das gerade beendete NATO-Großmanöver in Südeuropa zeigt, dass die NATO weiterhin auch Richtung Süden schaut, die globale Ausrichtung nicht aufgegeben hat. Neue Kriegseinsätze in Afrika, in Asien oder im Nahen Osten bleiben wahrscheinlich. Die Konfrontation zwischen Russland und den westlichen Ländern beschränkt sich nicht auf Osteuropa. Der Syrienkrieg zeigt, dass die machtpolitische Konkurrenz auch auf anderen Schauplätzen ausgetragen wird. Die russischen Luftangriffe haben die militärische Eskalation angeheizt. Die westlichen und arabischen Sponsoren gaben nicht klein bei, sondern lieferten ihren „eigenen“ Rebellen sofort frische Waffen. Wir können froh sein, dass die Großmächte sich bisher nicht direkt militärisch bekämpfen und sogar in Wien am Verhandlungstisch Platz genommen haben. Denn der Syrienkonflikt kann nur durch gemeinsames Handeln von Russland und dem Westen gelöst werden. Europäische Entspannungspolitik könnte auch über Europa hinaus eine positive Wirkung entfalten.

2015 ist der deutsche Handel mit Russland weiter eingebrochen. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft und der deutsche Mittelstandsverband BVMW problematisierten die Sanktionspolitik von Anfang an. Sogar die deutsche Energiewende wurde und wird für die Konfrontationspolitik gegen Russland instrumentalisiert: Man müsse unabhängig vom russischen Gas werden, wird argumentiert. So richtig es ist, die Erneuerbaren viel schneller auszubauen, so falsch ist es, die Wirtschaftsbeziehungen Richtung Russland zu zerstören. Wirtschaftliche Verflechtung ist potentiell friedensfördernd bzw. deeskalierend – das hat sich schon im Kalten Krieg gezeigt.

Es steht nicht gut um das „Gemeinsame Europäische Haus“. Die meisten Gesprächskanäle sind suspendiert. Einmal mehr hat sich in der Ukraine-Krise gezeigt, dass der NATO-Russland-Rat kein sinnvoller Rahmen ist, sondern etwas Anderes, Neues an dessen Stelle treten muss. Vielleicht lohnt sich heute ein Blick in ein Konzept, das vor 20 Jahren vom Hamburger IFSH unter der Federführung von Dieter S. Lutz entwickelt wurde: „Die Europäische Sicherheitsgemeinschaft“ (ESG) sollte ein Sicherheitsmodell für das 21.Jahrhundert sein. Denn die Begrenztheit eines Sicherheitsmodells in Form des NATO-Militärpakts war in Friedensforschung und Friedensbewegung damals durchaus erkannt worden. Auch heute sind die damaligen Fragen hochaktuell: Brauchen wir einen Europäischen Sicherheitsrat? Brauchen wir Europäische Blauhelme?

Die Krise als Chance

Nichts gegen kurzfristige Ideen für die deutsche OSZE-Präsidentschaft 2016 – aber wir müssen darüber hinaus denken, wenn wir eine tragfähige europäische Sicherheitsarchitektur für das 21.Jahrhundert entwickeln wollen. Jede Krise ist auch eine Chance. In diesem Sinne sollten wir die Ukraine-Krise als Chance begreifen, endlich ein wirklich „Gemeinsames Europäische Haus“ zu bauen, dessen Hausordnung gemeinsam ausgearbeitet wird und bei dem Russland im gleichen Stockwerk wohnt. Ein positives Moment ist doch, dass die OSZE seit 2014 in der Ukraine wieder ihre Relevanz als Sicherheitsorganisation bewiesen hat.

Es wäre gut, wenn die Formation „Für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik JETZT“ sich diese ehrgeizige, längerfristige Perspektive zueigen machte. Genau das klingt an, wenn die Bundesregierung aufgefordert wird, „einen gesamteuropäischen Sicherheitsraum ohne Trennlinien aufzubauen, in dem kein Staat oder Bündnissystem die eigene Sicherheit zum Nachteil von anderen zu verbessern sucht.“

Uli Cremer

Hamburg, 17.11.2015

 

pdf-Datei / Druckversion:

UC_Entspannungspolitik_Nov2015

 

[i] Gemeinsame Erklärung abrufbar hier: http://www.paxchristi.de/meldungen/view/5770259873136640/F%C3%BCr%20eine%20neue%20Friedens-%20und%20Entspannungspolitik%20JETZT!

[ii] Gemeinsame Erklärung – siehe Anmerkung 1

[iii] Wortlaut des Aufrufs abrufbar hier: http://www.zeit.de/politik/2014-12/aufruf-russland-dialog

[iv] https://www.change.org/p/the-interested-german-public-friedenssicherung-statt-expansionsbelohnung-aufruf-von-%C3%BCber-100-deutschsprachigen-osteuropaexpertinnen-zu-einer-realit%C3%A4tsbasierten-statt-illusionsgeleiteten-russlandpolitik

[v] Antrag abrufbar hier: http://www.gruene-friedensinitiative.de/cms/den-ukraine-konflikt-deeskalieren-den-kalten-krieg-2-0-beenden/

[vi] Vergleiche: http://www.gruene-friedensinitiative.de/cms/supersnelle-flitsmacht-der-nato-nimmt-konturen-an/

Eine Reaktion zu “Die Ukraine-Krise als Chance für eine nachhaltige Europäische Sicherheitsarchitektur nutzen!

  1. Besten Dank, lieber Uli, für diese Positionierung, auch wenn wir nur 10 Prozent Zustimmung auf Parteitagen der GRÜNEN erlangen. Ich bin froh, dass es die GFI gibt. Auch in der sonst so geliebten TAZ liest man immer wieder wie auch heute Beiträge von Klaus-Helge Donath aus Moskau, die versteckt bis offen von sublimer Hetze und vor allem Nicht-verstehen-wollen der russischen Positionen bestimmt sind. Statt auf die Ergebnisse und Vorschläge russischen Handelns zu schauen, werden immer wieder Putin und der russischen Führung völlig unlautere, ja fast teuflische Motive unterstellt. Und die GRÜNE Führung macht dies immer wieder mit. LEIDER!

    Also: besten Dank und mit einem solidarischen Gruß der Verbundenheit
    Pejo Boeck, GRÜNER Gründungsdelegierter Karlsruhe und Gründungsvorstand KV Dortmund, heute immer noch KV Bielefeld

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