Nach dem NATO Gipfel: Sterben für Riga?

von Wilhelm Achelpöhler

Vor dem NATO-Gipfel am 8. und 9. Juli in Warschau warnte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier noch davor, »durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen«.[1] Die NATO hatte da gerade das größte Manöver in Osteuropa veranstaltet, seit der Kalte Krieg zu Ende ging.

Ganz offenbar war Krieg in der Ukraine und die Besetzung der Krim, ein »wake up call«[2] für die NATO, wie der inzwischen zu Goldman Sachs gewechselte[3] frühere NATO-Generalsekretär Rasmussen bemerkte. Bei letzten Gipfel im walisischen Cardiff hatte die Bündnisorganisation bereits eine Wende zur NATO 2.0 vollzogen[4] und mit dem Aufbau einer »Sehr schnellen Eingreiftruppe« (Very High Readiness Joint Task Force), die innerhalb von zwei bis fünf Tagen an die russische Grenze verlegt werden kann, einen Strategiewechsel zurück zum Kalten Krieg vollzogen.

Diese Politik wurde in Warschau noch einmal eskaliert. Doch gleichzeitig werden unübersehbar auch unterschiedliche Interessen in der Allianz sichtbar. Doch Vordergründig demonstrierte die NATO in Warschau Einigkeit:

1. Mehr Soldaten in den Osten: Vier Bataillone mit je 1.000 Soldaten werden in die östlichen NATO-Staaten in Marsch gesetzt. Sie gewährleisten eine »verstärkte Vorwärtspräsenz« an der Grenze Russlands. Als einziger EU-Staat neben Britannien ist Deutschland dabei federführend, wird ein Bataillon in Litauen führen und auch den Großteil der Soldaten stellen. Die USA übernehmen in Polen die Führung, in Lettland Kanada und in Estland Britannien. Auch in Rumänien sollen die dortigen Streitkräfte durch die NATO verstärkt werden. Damit wird es künftig eine dauerhafte NATO Präsenz an der Grenze Russlands geben – mit der »rotierenden« Stationierung von NATO-Truppenteilen an der russischen Grenze ist die Grundakte NATO-Russland von 1997 Makulatur. Zudem sollen künftig noch mehr Manöver durchgeführt werden.

2. Mehr Soldaten in den Süden: 16 Awacs-Aufklärungsflugzeuge werden künftig im Rahmen einer NATO Mission den Luftraum über Syrien und dem Irak überwachen. Bekanntlich unterstützt die Bundeswehr bereits durch sechs Tornado-Flugzeuge die Aufklärung im Syrien-Krieg, allerdings ausdrücklich nicht im Rahmen der NATO. Damit beteiligt sich die NATO erstmals auch an dem Krieg gegen den IS.

Der Afghanistan-Einsatz der NATO wird auf unbestimmte Zeit verlängert. War ursprünglich vorgesehen, die »Resolute Support Mission« von 13.000 NATO-Soldaten, darunter knapp 1.000 von der Bundeswehr, im Jahr 2016 zu beenden, so wird der Afghanistan Einsatz jetzt verlängert, ein Abzugsdatum verkneift man sich gleich. Dabei geht es keineswegs allein um die »Ausbildung« der afghanischen Armee, denn 2.850 US Soldaten betätigen sich bei der »Terrorismus Bekämpfung«.[5]

3. Mehr Soldaten gegen Flüchtlinge: Im Mittelmeer wird die NATO künftig bei der Flüchtlingsabwehr tätig. »Sea Guardian« soll die Operation heißen, die die praktisch letzte – noch auf der Ausrufung des NATO-Bündnisfalls nach den Angriffen auf New York und Washington am 11. September 2001 beruhende – Operation Active Endeavour (OAE) ersetzen soll. Die NATO wird dabei insbesondere die EU-Marine beim Einsatz »Operation Sophia« vor der Küste Libyens unterstützen und bei der Flüchtlingsabwehr in der Ägäis helfen.

4. Mehr Geld für die Rüstung: Schon vor dem NATO-Gipfel betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Allianz werde in Warschau das Ziel bekräftigen, künftig 2% ihres Bruttoinlandsproduktes für Rüstung auszugeben. »Deshalb haben wir im neuen Finanzplan eine signifikante Erhöhung von 37,1 Milliarden Euro 2016 auf rund 39 Milliarden Euro im Jahr 2017 vorgesehen«, so die Kanzlerin. Dieser Finanzplan sehe eine weitere Steigerung des Verteidigungshaushaltes für 2018 bis 2020 vor. Insgesamt seien zusätzlich mehr als 2,5 Milliarden Euro eingeplant. Darin spiegele sich die »internationale Verantwortung Deutschlands« wieder.[6]

5. Rückkehr zur nuklearen Abschreckung: Wie sehr sich das politische Klima verändert hat, wird insbesondere bei den Atomwaffen deutlich. Anfang 2010 forderte der Bundestag noch mit breiter Unterstützung den Abzug der US Atomwaffen aus Deutschland,[7] heute wird wieder auf nukleare Abschreckung gesetzt und etwa auf dem Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz neue US-Atombomben des Typs Typ B 61-12 stationiert.[8]


Kriegsszenarien durchgespielt

Auf dem Weg in einen neuen Kalten Krieg gehört es inzwischen offenbar dazu, wieder konkrete Kriegsszenarien durchzuspielen. Als potenzielles Ziel einer russischen Aggression werden die baltischen Staaten ausgemacht. In der regierungsnahen »Stiftung Wissenschaft und Politik« spielt Wolfgang Richter gleich mehrere Kriegsszenarien durch:[9] einerseits einen »klassischen« militärischen Überraschungsangriff, andererseits eine »hybride Kriegsführung«. »Russland könnte demnach durch Propaganda gewaltsame Demonstrationen der russischsprachigen Bevölkerung auslösen und mit irregulären Spezialkräften bewaffnete Widerstandsgruppen lenken. Würden zeitgleich reguläre Truppen in Grenznähe aufmarschieren, könnten sie eine militärische Drohkulisse schaffen, um die Handlungsfreiheit der baltischen Regierungen einzuengen.«

Der Hinweis auf die »russische Bevölkerung« als »5. Kolonne Russlands« verweist auf den schäbigen Umgang, den insbesondere die EU-Mitglieder Estland und Lettland mit ihrer russischsprachigen Bevölkerung pflegen. Obwohl das Lettische die Muttersprache von nur von 58% der Bevölkerung ist, gilt das von 38% gesprochene Russisch nicht als Amtssprache. Die Sprachenpolitik ist so nationalistisch, wie sich dies die ukrainische Nationalisten mit der Abschaffung des Sprachengesetzes nach dem Sieg des »Euromaidan« 2014 gewünscht hätten.

Seinerzeit gab es Proteste der OSZE, des Europarats und Anderer bis Übergangspräsident Turtschynow sein Veto einlegte. In Lettland darf man allenfalls einen Notruf auf russisch absetzen, aller amtlicher Schriftverkehr muss auf lettisch geführt werden. Mehr noch: anders als in der Ukraine verfügen die dort ansässigen »Russen« nicht einmal über staatsbürgerliche Rechte, sie gelten als »Nichtbürger«.

Die antirussische Frontstellung ist in diesen Staaten gewissermaßen Staatsräson. Um die »Resilienz«, also die Widerstandsfähigkeit der Baltenstaaten zu erhöhen, hilft Deutschland deshalb bei der Gründung öffentlich-rechtlicher russischsprachiger Sender.[10] Wenn russische Staatsmedien hierzulande Russlanddeutsche aufwiegeln, sieht die Bundesregierung darin auch einen solchen unziemlichen Akt »hybrider Kriegsführung«.[11]

Angesichts ihrer exponierten Lage und überschaubaren »Größe« – Lettland ist etwas kleiner als Bayern – sind diese Länder, die selbst über keine wesentlichen Streitkräfte verfügen, militärisch gar nicht zu verteidigen. Mit der angeblichen »Bedrohungslage« der baltischen Staaten kann damit letztlich jede militärische Aufrüstungsmaßnahme, jeder Schritt zum Aufbau von mehr »Abschreckungspotenzial« der NATO und jede Verschärfung der NATO-Politik gegenüber Russland gerechtfertigt werden.

Man darf allerdings nicht den Fehler machen, die schrille Rhetorik baltischer Politiker mit ihrem tatsächlichen Gewicht innerhalb von NATO oder EU zu verwechseln. Die NATO hat sich nicht zum Schutz baltischer Kleinstaaten gegründet, sie sieht diese umgekehrt als strategischen Zugewinn an der Grenze zu Russland. Die baltischen Staaten sind Stichwortgeber für eine Politik der Konfrontation gegenüber Russland, wie sie innerhalb der NATO insbesondere von den USA betrieben werden.[12] Man erinnere sich an den Umgang der USA mit dem u.a. von Deutschland ausgehandelten Maidan-Abkommen…

Neue Rolle Deutschlands

Nicht zuletzt in den erhöhten Rüstungsausgaben sieht Johannes Leithäuser in der FAZ eine neue Rolle Deutschlands. »Deutschland hat sich sicherheitspolitisch gewandelt und die Kultur politischer und militärischer Zurückhaltung auf[ge]geben, die über Jahrzehnte ein eingeübtes Verhaltensgebot der deutschen politischen Führung war… Nachdem die NATO vor zwei Jahren die ersten Schritte ihrer neuen strategischen Ausrichtung auf der Ostflanke beschlossen hatte, zeigte sich die Bundesregierung sogleich bereit, deutsche Soldaten in großem Umfang einzusetzen, um das Konzept der vergrößerten und beschleunigten Nato-Eingreiftruppe zu testen.

Die Bundeswehr war maßgeblich an der Konzeption dieser neuen ›Speerspitze‹ der NATO beteiligt; sie wird auch in den nächsten Jahren nahezu ohne Unterbrechung wesentliche Truppenteile für die Bereitschaftstruppe der NATO zur Verfügung stellen… Ein multinationaler, im Wesentlichen aber von Deutschland und Polen besetzter Führungsstab in Stettin ist in den vergangenen beiden Jahren so ausgestattet worden, dass er alle möglichen militärischen Übungen und Operationen im östlichen NATO-Bündnisgebiet führen kann.

Und schließlich: Nachdem die NATO die Stationierung kleinerer Kampfeinheiten in Bataillonsstärke in den drei baltischen Staaten und in Polen vorgesehen hat – die vorläufig letzte Maßnahme ihrer Ost-Strategie, die jetzt in Warschau beschlossen werden soll –, meldete Deutschland abermals frühzeitig die Bereitschaft, eines dieser Bataillone dauerhaft zu führen.«[13]

Damit demonstriert Deutschland, dass es die Politik der Zurückdrängung Russlands teilt, wie sie von den USA praktisch betrieben wird und von den Staates des »neuen Europa« – also Polens und den kleinen baltischen Staaten – mehr propagandistisch unterstützt wird. Putins Politik in der Ukraine und die Annektion der Krim wird auch von Deutschland als nicht hinzunehmender Einspruch gegen die eigene Machtentfaltung der EU in der Ukraine gesehen, der scharf zurück gewiesen werden muss.

Einerseits. Andererseits – das belegen die Äußerungen von Außenminister Steinmeier – will man eine weitere Eskalation mit Russland vermeiden. Von einem Krieg will man in Deutschland nichts wissen. Äußerungen wie die von NATO-Oberbefehlshaber Philip Breedlove, Russland sei eine »existenzielle Bedrohung«;[14] die von Polens Außenminister Witold Waszczykowski (»Russland sei für Europa eine größere Gefahr als der IS«)[15] oder die Forderung des dänischen NATO-Offiziers Jakob Larsen (»Wir müssen wieder lernen, den totalen Krieg zu führen«),[16] hört man von Politikern aus Deutschland, Frankreich oder Italien ebenso wenig, wie Phantasien von Richard Shirreff, immerhin zwischen 2011 und 2014 stellvertretender NATO-Oberkommandeur in Europa, in seinem Buch »2017 War with Russia«.[17]

Im Gegenteil: Vor dem NATO-Gipfel reisten EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Italiens Premier Matteo Renzi zum russischen Wirtschaftsforum nach St. Petersburg – sehr zum Missfallen der polnischen Regierung. Kanzlerin Merkel betont die Bedeutung des NATO-Russland Rates und Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, fasst es so zusammen: »Wir brauchen und wir wollen Russland als Partner, wenn sich Russland für den Weg zurück zur europäischen Sicherheitsordnung entscheidet.«[18]

Mit der Bereitschaft, an führender Position die NATO-Politik mitzutragen, bekennt sich Deutschland einerseits zur Abschreckungspolitik der NATO gegenüber Russland, die hierzulande nur von der schon deshalb »regierungsunfähigen« Linken nicht geteilt wird. Zugleich liegt in der Rolle als Haupttruppensteller auch die Kalkulation, mitentscheiden zu können, wenn es wirklich um militärische Fragen geht. Insoweit will man die Politik gegenüber Russland andererseits nicht den USA überlassen. Für die USA geht es um mehr, die Relativierung Russlands zur »Regionalmacht«, und damit umgekehrt um die eigene Rolle als Weltmacht Nr. 1.

Wilhelm Achelpöhler ist Rechtsanwalt in Münster und arbeitet in der Grünen Friedensinitiative.

[1] Siehe dazu Ulrich Cremer, Militär- und manöverfreier Korridor statt Säbelrasseln: http://www.gruene-friedensinitiative.de/cms/militaer-und-manoeverfreier-korridor-statt-saebelrasseln/
[2] http://www.bbc.com/news/world-europe-27690320
[3] http://www.manager-magazin.de/koepfe/anders-fogh-rasmussen-heuert-bei-goldman-an-a-1046845.html
[4] Ulrich Cremer, Strategiewechsel: NATO rüstet für Kalten Krieg 2.0 http://www.gruene-friedensinitiative.de/cms/strategiewechsel-nato-ruestet-fuer-kalten-krieg-2-0/
[5] http://www.economist.com/news/asia/21700456-barack-obama-faces-unpleasant-decision-generals-words
[6] https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/2016/07/84-1-bk-regerkl-bt.html
[7] http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17035.pdf. Die Linke war von dem interfraktionellen Antrag ausgeschlossen.
[8] http://www.zdf.de/frontal-21/stationierung-neuer-us-atomwaffen-in-deutschland-russland-beklagt-verletzung-des-atomwaffensperrvertrages-40197860.html
[9] https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2016A41_rrw.pdf
[10] FAZ vom 18.4.2015.
[11] FAZ vom 10.7.2016: »Die Gesellschaft muss sich wieder schützen«.
[12] Und taugen auch der deutschen Politik in Finanzfragen als Stichwortgeber gegenüber Griechenland.
[13] FAZ vom 8.7.2016: »Vom verlässlichen Partner zum Impulsgeber«.
[14] eucom.mil/media-library/article/35164/u-s-european-command-posture-statement-2016
[15] Die Welt vom 16.4.2016.
[16] http://www.spiegel.de/spiegel/nato-lernen-den-totalen-krieg-zu-fuehren-essay-a-1102178.html
[17] http://www.imi-online.de/2016/05/19/russisch-westlicher-atomkrieg/
[18] http://www.spiegel.de/politik/ausland/nato-gipfel-in-warschau-das-russland-paradox-a-1100469.html

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