Von Wilhelm Achelpöhler und Uli Cremer
Wenn man sich über den Krieg der NATO in Afghanistan informieren will, dann fährt man am Besten nicht nach Afghanistan, sondern nach Chicago. Jedenfalls am 20./21.Mai 2012 konnte man dort mehr über die Ziele der am Afghanistan-Krieg beteiligten Staaten und die Schwierigkeiten, diese zu realisieren, erfahren, als bei Feldstudien in zentralasiatischen Bergland. In Chicago traf sich die NATO, um über ihre Afghanistanpolitik zu beraten.
1. Die NATO und die UNO
Die NATO beschloss zunächst, dass der bisherige ISAF Einsatz 2014 enden solle, was aber keineswegs mit einem Ende des militärischen Engagements in Afghanistan und dem Abzug aller Truppen gleichgesetzt werden sollte. Die NATO will auf nicht absehbare Zeit in Afghanistan bleiben. „Der Name der neuen NATO-Mission steht noch nicht fest, sie soll aber nicht ISAF heißen und auf einem neuen UN-Beschluss beruhen.“ (FAZ 22.5.12) Damit wäre zweierlei klargestellt: zum einen die reale Reihenfolge von UN Beschlüssen und ihrer Umsetzung: nicht die NATO kommt einem Wunsch der Völkergemeinschaft nach, sondern die UNO soll nachvollziehen, was die NATO beschlossen hat. Gegenüber den nicht in der NATO, aber im UN-Sicherheitsrat vertretenen Vetomächten China und Russland wird damit von den NATO Staaten die Erwartung ausgedrückt, dass sie durch Zustimmung in der UNO diesen Planungen der NATO ihre Zustimmung geben und sie damit völkerrechtlich absichern. Es reicht eben heutzutage nicht, die eigene Machtentfaltung real durchzusetzen, sie soll auch „ins Recht gesetzt“ werden.
2. „Raider heißt jetzt Twix“
Also heißt bei der NATO ab 2015, wenn in NATO-Sprache die so genannte „Transformationsdekade“ beginnt, „Raider“ eben „Twix“. „Sonst ändert sich nix“ ging der damalige Werbeslogan weiter, bei der NATO sind allerdings schon ein paar kleine Änderungen dabei:
Erstens sollen weniger NATO-Soldaten vor Ort eingesetzt werden. Vorsichtshalber hat man dazu in Chicago keine konkreten Zahlen verabschiedet oder wenn, dann nicht veröffentlicht. In der FAZ konnte man jedoch am 22.5.2012 lesen: „In der NATO wird derzeit mit 10 000 bis 30 000 Soldaten gerechnet.“ Schon am 1.1.2012 hatte die SZ von einer NATO-Planung in der Größenordnung von 15.000 Soldaten berichtet. Die vom Regime Karsai eingesetzte Lorga Dschirga hatte bereits 2011 den Vorschlag für die Stationierung von 25.000 US-Truppen bis zum Jahre 2024 unterstützt. Diese dürften allerdings nicht komplett unter NATO-Kommando gestellt werden, denn es soll offenbar auch weiterhin eigenständig agierende US-Spezialeinheiten zur „Terrorismusbekämpfung“ geben . Zusammengefasst: Statt heute 130.000 NATO-Soldaten sollen also ab 2015 nur noch einige Zehntausend in Afghanistan eingesetzt werden – also maximal eine Größenordnung wie in 2006 (31.000) oder 2007 (41.000), bevor die gigantischen Truppenverstärkungen unter der Obama-Regierung einsetzten. Wie diese Pläne in den Medien als „Abzug“ durchgehen können, ist völlig rätselhaft.
Was die deutsche Beteiligung betrifft, so hatte die tagesschau nach dem NATO-Gipfel auch „erste Schätzungen aus Diplomatenkreisen“ zu bieten: Danach werden „wohl 1000 Soldaten in Afghanistan bleiben… de Maizière… kündigte an, dass der Bundestag im kommenden Jahr ein neues Mandat für den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan von 2015 an beschließen müsse. Der weitere Einsatz in Afghanistan solle auf der Grundlage eines rechtlich eindeutigen Mandats der Vereinten Nationen unter Führung der NATO laufen, so de Maizière. »Allerdings wird es keine Kampftruppen mehr geben, nur noch Einheiten, um die Ausbilder zu schützen. «“
Das sind dann keine Kampftruppen? Aha. Am 13.12.2011 hatte de Maizière die Dinge noch ehrlich auf den Tisch gepackt: ‚„Sachlich falsch“, so de Maizière, sei im Übrigen die These, dass nach 2014 keine deutschen Kampftruppen mehr in Afghanistan stationiert sein würden. „Die weiter geplante Ausbildung von afghanischen Infanteriekräften machen bei uns nicht die Sanitäter, sondern natürlich Infanteristen. Und das sind kampffähige Truppen.“ Es gehe also um deren Auftrag, nicht um deren Fähigkeiten. Es blieben kampffähige unterstützende Truppen, die weiter ausbildeten. Deren Zahl über das Jahr 2014 hinaus sei „völlig offen“.’
3. „Vorsprung durch Technik“
Offiziell hält man die Reduzierung der NATO-Truppen für machbar, weil die afghanischen Streitkräfte immer schlagkräftiger würden. Diese will die NATO ab 2015 auch weiter subventionieren, mit 3,6 Mrd. US-$ pro Jahr (deutscher Anteil: 195 Mrd. US-$). Da es sich bei der afghanischen Armee jedoch tendenziell um eine „potemkinsche Armee“ handelt , wird die militärische Fähigkeitslücke, die durch den Abzug zehntausender westlicher Soldaten entsteht, gemäß den Audi-Slogans „Vorsprung durch Technik“ gelöst: „Statt Zehntausender ‚Stiefel auf dem Boden’ … gibt es nur noch einen ‚leichten Fußabdruck’ mit Einsätzen von Spezialkommandos und Drohnenangriffen gegen Al Qaida und die Taliban in Afghanistan und Pakistan. Die Tötung Usama Bin Ladins im Mai 2011… war zugleich der Beweis für die Wirksamkeit dieser Strategie und die informelle Siegesdeklaration.“ (FAZ 22.5.2012) In der „Transformationsdekade“ wird man sich also auf einen verstärkten Drohnenkrieg gefasst machen müssen. Das entsprechende Gerät wird in den nächsten Jahren angeschafft und in Afghanistan stationiert.
Nachgeholfen hat dieser strategischen Umorientierung natürlich auch das Nachschubroutendesaster beim Afghanistankrieg: Seit Ende November (also einem halben Jahr jetzt) kann kein Nachschub mehr über Pakistan transportiert werden. Über diese Route war einmal mehr als die Hälfte der Nachschubgüter gerollt. Auslöser war die Bombardierung eines pakistanischen Grenzpostens mit 25 Toten. Seitdem erlaubt Pakistan keine Transporte mehr. Inzwischen scheinen sich die Forderungen auf die finanzielle Ebene verlagert zu haben. In den Tagen des NATO-Gipfel hieß es, Pakistan verlange jetzt einen höheren Wegezoll: Statt 200 $ soll die NATO nunmehr pro Container 5.000 $ entrichten .
In den letzten 6 Monaten hatte die NATO also nur noch die Nordroute zur Verfügung oder den besonders teuren Lufttransport. Im Norden „baute die Nato die alternativen Verbindungswege über die nördlichen Anrainerstaaten Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan aus. Dazu werden zum Teil Wege genutzt, die Moskau während der sowjetischen Invasion angelegt hatte.“ Auch eine Eisenbahnstrecke von Usbekistan zur Isaf-Hauptstadt in Nordafghanistan, Masar-e-Sharif, ist seit letztem Jahr in Betrieb. Dass spätestens durch diese Entwicklung Nordafghanistan, wo die Bundeswehr das Kommando führt und seine Truppen konzentriert hat, eine militärstrategische Schlüsselstellung erhalten hat, sei einmal mehr betont.
Die Nachschubwege werden in den meisten deutschen Medien meist nur in Zusammenhang mit den „Abzugsplänen“ thematisiert. tagesschau.de schrieb z.B.: „Der Abzug der NATO aus Afghanistan entwickelt sich zu einem logistischen Albtraum.“ . 150.000 Container müssten abtransportiert werden, 72.000 Fahrzeuge und so weiter. Deswegen in diesem Zusammenhang ein kleiner Logistik-Tipp: Einfach ein paar russische Militärberater engagieren! Die Sowjetunion stemmte den Rückzug 1989 allein über die Nordroute. Sie hatte knapp über 100.000 Soldaten und entsprechendes Gerät in Afghanistan eingesetzt. Zugegeben: die NATO hat dort inzwischen ein paar Soldaten mehr als die Sowjetunion in den 80ern, aber es sollen ja auch einige Zehntausend verbleiben.
4. „Wir gehen gemeinsam rein und gehen gemeinsam raus“
Präsident Obama sagte in Chicago: „So wie wir für unsere gemeinsame Sicherheit Opfer gebracht haben, so werden wir in unserer Entschlossenheit zusammenstehen, diese Mission zu Ende zu bringen.“ Bundeskanzlerin Merkel drückte es etwas weniger pathetisch aus, meinte aber das Gleiche: „Wir sind gemeinsam nach Afghanistan gegangen und wir wollen auch wieder gemeinsam aus Afghanistan abziehen.“ (FAZ 22.5.12.)
Diese Argumentation rückte natürlich deswegen in den Vordergrund, weil der neu gewählte französische Präsident Hollande sein Wahlversprechen, die französischen Soldaten bis Ende 2012 abzuziehen, nicht einfach brechen wollte, sondern in Chicago erst einmal Rückgrat zeigte. Hätte ihn wenigstens irgendeine andere größere Truppenstellernation unterstützt, wer weiß, was aus dem Afghanistankrieg geworden wäre. Nach dem NATO-Gipfel besuchte der Präsident seine Truppen in Afghanistan und reduzierte sein Wahlversprechen um ein Drittel: Nur 2.000 der 3.100 französischen Soldaten sollen nun bis Weihnachten zuhause sein . Gegenwind erhielt Hollande bemerkenswerterweise insbesondere aus Berlin. De Maizière erklärte süffisant: „Deutschland engagiert sich in der einen Region der Welt etwas mehr, Frankreich in einer anderen. Wir haben uns entschlossen, das nicht öffentlich zu kritisieren.“ (sic!) Eine kleine Spitze in Sachen Libyen-Krieg konnte sich der deutsche Minister nicht verkneifen: „Das heißt dann aber, dass wir, wenn es mal andersrum ist, auch nicht wollen, das wir kritisiert werden.“
Bemerkenswert auch, was neuerdings das alleinige Kriterium des Abzugs sein soll: dass er gemeinsam durchgeführt wird. Maßstab für die Beantwortung der Frage, ob die NATO aus Afghanistan ihre Kampftruppen abzieht, ist nicht die Frage, ob es inzwischen gelungen ist, einen halbwegs verlässlichen und einige Hunderttausend Mann zählenden staatlichen Gewaltapparat in einem der ärmsten Staaten der Welt auf die Beine zu stellen. Maßstab ist nicht, ob „die Mädchenschule“ als Regelschule eingeführt ist oder irgendein anderes der Kriegsziele erreicht ist, um derentwillen seit mehr als einem Jahrzehnt Parteitage der Grünen als Ausdruck praktizierter Verantwortungsethik den Krieg billigen – unter äußerster Gewissensanstrengung und innerer Zerrissenheit versteht sich. All das spielt jetzt, wo es um das Ende des Krieges geht keine Rolle mehr. Damit erweist sich der Krieg als Bündniskrieg. Für die beteiligten NATO-Staaten kommt es darauf an, dass der Krieg vom Bündnis getragen wird, was am Anfang keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Als nach 9/11 der NATO-Rat den bis heute geltenden Bündnisfall beschloss, also den USA den Antrag der Bündnispartner machte, den Krieg doch in der 50 Jahre lang bestehenden Militärkoalition zu führen, wurde dieser Wunsch von den USA souverän abgewehrt und die eigene Souveränität und Unabhängigkeit von ihren Alliierten dadurch bewiesen, dass man den Krieg auch ohne NATO, nämlich mit einer Koalition der Willigen führen könne. Erst später, 2003 ist es insbesondere auf Drängen Deutschlands dazu gekommen, dass der ISAF-Einsatz unter NATO-Führung stattfindet . Die USA, sie hatten gerade den Krieg im Irak begonnen, willigten ein und machten ihren Alliierten die entsprechende Rechnung auf: sie mögen sich an dem Krieg dann auch entsprechend finanziell beteiligen. Deshalb war es gerade Deutschland, dass sich auch zum Ende des ISAF-Einsatzes für einen gemeinsamen NATO Einsatz stark gemacht hat – wie erwähnt auch mit einem kritischen Blick auf den neuen französischen Staatspräsidenten Hollande, der die Souveränität Frankreichs gerade durch ein Ausscheren aus der Kriegsfront demonstrieren wollte.
Das besondere Interesse Deutschlands unter dem Dach der NATO an der militärischen Machtentfaltung der USA teilzuhaben und mitzubestimmen wird in der FAZ gerade anlässlich des NATO-Gipfels in Chicago betont: „Die Vereinigten Staaten können sich dabei eine derart gelockerte Nato viel eher leisten als jeder europäische Verbündete. Sparen müssen auch sie, aber trotzdem ist das Land immer noch eine Weltmacht, die militärisch global handlungsfähig ist. In Europa kann das keiner von sich behaupten, wie der Libyen-Krieg wieder gezeigt hat.“ (Nikolaus Busse FAZ 22.5.12) – womit zugleich die „militärische globale Handlungsfähigkeit“ als Anspruch der europäischen Verbündeten als eine Selbstverständlichkeit unterstellt ist.
Hamburg/Münster 27.Mai 2012