Ukraine: Kein Konsens mit dem „Appell“

Ursula Hertel-Lenz kritisiert den von einigen Grünen gestarteten Appell „Für eine nachhaltige Friedensordnung in Europa – Solidarität mit der Ukraine!“:

1. Der Appell „Für eine nachhaltige Friedensordnung in Europa – Solidarität mit der Ukraine!“ knüpft zwar begrifflich – sinngemäß – an den BDK-Beschluss von 2014 an, tatsächlich geht es aber im Wesentlichen um die aktuelle Situation nach Minsk II. Im Unterschied zum BDK-Beschluss legt der Appell den Schwerpunkt einseitig auf die Unterstützung einer Seite in dem Konflikt.
Der Forderung „Für eine nachhaltige Friedensordnung in Europa“ weckt die Erwartung, es könnte in dem Appell darum gehen, wie und in welchen Schritten diese erreicht werden soll, ähnlich wie es im BDK-Beschluss um „eine gemeinsame europäische Friedensordnung“ und um das längerfristig anzustrebende Ziel einer „kooperativen Sicherheit“ ((S. 15) geht. Tatsächlich aber geht es in dem Appell um einen Waffenstillstand (oder evtl. um einen möglichen Friedensvertrag, das wird nicht ganz klar, s. unten), also um die aktuelle Situation nach Minsk II, ohne dass dies allerdings direkt gesagt wird.
Der zweite Teil der Überschrift fordert „Solidarität“; der Begriff bedeutet allgemein eine moralisch und/ oder politisch gebotene Unterstützung, welche nicht oder nicht hinreichend erfolge. Im Kontext des Begriffs „Friedensordnung“ wird durch die Wahl der Begrifflichkeit „mit der Ukraine“ (und nicht: mit den Ukrainerinnen und Ukrainern) die Solidarität mit dem Staat angesprochen bzw. mit der Ukraine als Völkerrechtssubjekt.
Der Überschrift zufolge wäre die Grundthese des Appells etwa: Wer eine nachhaltige Friedensordnung will, muss Solidarität mit der Ukraine üben. Eine wichtige Grundthese des BDK-Beschlusses dagegen heißt: „Die Aufgabe der EU ist es, in dieser ernsten Krise ihr Potenzial als Zivilmacht zur Deeskalation, zur zivilen Konfliktbearbeitung und Friedensförderung einzusetzen.“ (S.11).

2. Die indirekt enthaltene dichotomische Bildstruktur des Appells widerspricht dem BDK-Beschluss bezüglich der Strategie von Deeskalation, Dialog und Verhandlung
Zwei Überschriften des BDK-Beschlusses lauten: „Das Verhältnis zwischen Ukraine und Russland entspannen“ (S. 11) und: „Deeskalation durch Dialog“ (S.13). Hier geht es um Vermittlung und Verhandlung. Im Unterschied dazu enden fünf Abschnitte, des Appells jeweils mit dem parallel konstruierten – etwas variierten – Schlüsselsatz: „Wir stehen an der Seite der Ukraine, weil …“ (2x); „Wir stehen zur Ukraine, weil …“ (2x); „Wir stehen zu den Ukrainer/innen, weil …“ (1x). Die Parallelstruktur der Sätze unterstreicht deren Bedeutung. 4x wird die Ukraine als Staat in den Blick genommen, 1x die darin lebenden Menschen (Ukrainer/innen).
Diese Grundstruktur – „wir stehen an der Seite von“, „wir stehen … zu“ ruft von der Bildsprache her die Assoziation „gegen Russland“ hervor, obwohl dies nicht ausdrücklich gesagt wird. (Eine Differenzierung erfolgt in Bezug auf die russische Opposition.) Diese vom Ansatz her dichotomische Sichtweise widerspricht der Grundtendenz des BDK-Beschlusses und ist kein geeigneter Beitrag zum Erreichen einer Friedensordnung in Europa. Im Gegenteil.

3. Die Forderung des BDK-Beschlusses nach Unterstützung der Ukrainer/innen in ihrem Streben nach Demokratie und Bürgerrechten erfährt eine Akzentverschiebung hin zur pauschalen Unterstützung des Staates
Die pauschalisierende Formulierung „Solidarität mit der Ukraine“ wurde zu Recht bereits wiederholt kritisiert. (Die teilweise vorhandenen Differenzierungen werden durch die Formulierungen in dem Schlüsselsatz in den Hintergrund gerückt.) Etwas widersprüchlich erscheint mir darüber hinaus die Forderung: „Menscheninteressen vor Staatsinteressen“, wenn gleichzeitig die Ukraine in erster Linie als Staat bzw. Völkerrechtssubjekt gesehen wird. Der geforderte Vorrang der „Menscheninteressen“ lässt den Schluss zu, dass diese nicht identisch sind mit den „Staatsinteressen“. Warum wird dann in dem Appell die Solidarität nicht auf die „Ukrainer/innen“ konzentriert, die sich für Freiheit und Demokratie einsetzen? Und müsste gemäß der „bündnisgrünen Tradition“ nicht auch mit den Kriegsdienstverweigerern Solidarität geübt und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung eingefordert werden?

4. Während im BDK-Beschluss die Unterstützung für die Chancen des Waffenstillstands nach Minsk I – trotz aller Probleme – ausgedrückt wird
(S. 12), wird Minsk II in dem Appell indirekt in Frage gestellt.
In der Diskussion über den Appell wurde zu Recht kritisiert, dass darin keine klare Unterstützung für Minsk II enthalten ist, und auch, dass keine Schritte zu einem Frieden vorgeschlagen werden. Statt dessen wird „die Unterstützung der Ukraine als Beitrag zu einer nachhaltigen Friedensordnung“ angesehen. Eine Begründung fehlt, wie und durch welche Schritte dies geschehen könnte. Statt dessen wird die Forderung erhoben, die „nachhaltige Friedensordnung“ müsse „den Weltfrieden erhalten, ohne regionale Aggressionen zu belohnen.“ Hier wird der Bezug zur aktuellen Situation nach Minsk II deutlich und auch, dass entweder ein Friedensvertrag – der auch einen längeren Vorlauf haben würde, wenn er haltbar sein sollte – oder ein stabiler Waffenstillstand gemeint ist. (Eine „nachhaltige Friedensordnung“, wie im Titel angesprochen, würde schon vom Begriff her Aggressionen nicht belohnen. Sie könnte auch nur das Ergebnis eines längeren Prozesses sein.)
Der folgende Satz beinhaltet ebenfalls keine Begründung, sondern eine Umformulierung der vorher genannten Forderung: „Ein sofortiger Frieden darf nicht einseitig auf Kosten der angegriffenen Seite geschlossen werden und nicht den alleinigen Angreifer belohnen …“. Selbst wenn man der – bereits mehrfach kritisierten – Schwarz-Weiß-Zeichnung folgen wollte: Wieder ist unklar, was genau mit „sofortiger Frieden“ gemeint ist: ein Friedensvertrag (dieser ist keineswegs in greifbarer Nähe) oder nicht doch ein stabiler und überwachter Waffenstillstand oder eben der brüchige Waffenstillstand, wie er nach Minsk II zustande gekommen ist.
Insgesamt wird die Sorge deutlich, welche Folgen für die Ukraine durch den aktuellen Verlauf der Waffenstillstandlinie nach Minsk II und nach der Annexion der Krim durch Russland zu erwarten sind. Dies kann aber kein Grund sein, durch einseitige Betonung der Probleme von Minsk II die Unterstützung für diesen Prozess einzuschränken oder zu versagen, anstatt z.B. die Stärkung der OSZE zu fordern und evtl. erneut einen OSZE-Sondergipfel, wie bereits im BDK-Beschluss geschehen.

5. Unklar ist, worin dem Appell zufolge die „Solidarität“ mit „der Ukraine“ – über die Unterstützung der nach Demokratie und Bürger/innen/rechten strebenden Ukrainer/innen hinaus – genau bestehen soll. Hier ist eine gravierende Leerstelle. Diese kann (muss?) auf dem Hintergrund der dichotomisch angelegten Bildsprache („wir“ – „die“) durch die Assoziation einer Vorstellung von „Stärkung“ der „eigenen Seite“ gefüllt werden.
Da Waffenlieferungen zu Recht abgelehnt werden, konkrete Forderungen nach politischer, finanzieller, wirtschaftlicher oder kultureller Unterstützung im Gegensatz zum BDK-Beschluss nicht erwähnt werden, bleibt die Frage, was bleibt denn eigentlich übrig?
Wie schon verschiedentlich kritisiert, wird im Gegensatz zum BDK-Beschluss („Ein Nato-Beitritt der Ukraine steht für uns nicht zur Debatte […]“, S. 11) diese Frage im Appell nicht angesprochen. Im BDK-Beschluss heißt es außerdem: „Russland und die NATO dürfen keine Schritte unternehmen, welche die Gefahr einer militärischen Eskalation verstärken.“, außerdem wird „eine deeskalierende Rhetorik von allen Seiten“ befürwortet (Beschluss S. 11). Da die Frage, worin die Solidarität denn genau bestehen soll, im Appell offen bleibt, wäre eine Positionierung z.B. zur Frage der Verstärkung von Nato-Truppen in bestimmten Gebieten entsprechend dem genannten BDK-Beschluss durchaus wünschenswert.

6. Die berechtigte Sorge um die Zukunft der Ukraine darf nicht dazu führen, dass die im BDK-Beschluss von 2014 beschlossene Strategie von Deeskalation, Diplomatie und Verhandlungen relativiert oder in Frage gestellt wird.

Ursula Hertel-Lenz
27.3.2015

Hier geht es zum dem Aufruf, der von Ursula Hertel-Lenz kritisiert wird: Appell „Für eine nachhaltige Friedensordnung in Europa – Solidarität mit der Ukraine!“

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