von Uli Cremer
Am 28.9.2013 verabschiedete der UN-Sicherheitsrats seine Resolution 2118 zu Syrien. Darin hat Russland sich im Wesentlichen durchgesetzt: Erstens wird keine Schuldzuweisung an das Assad-Regime bezüglich des Giftgaseinsatzes am 21.8.2013 vorgenommen. Zweitens wird bei Nichtbefolgen der Resolution der syrischen Regierung nicht mit einem automatischen Militärschlag auf Grundlage eines Kapitel-VII-Mandats gedroht. Dazu müsste ein neuer Beschluss des Sicherheitsrats gefasst werden, die Russland jederzeit verhindern könnte. Anderes wäre aus russischer Sicht auch widersinnig: Moskau geht schließlich davon aus, dass der Giftgaseinsatz von der Rebellenseite zu verantworten ist. Entsprechend unterstreicht der Sicherheitsrat (im Konsens), dass nicht nur die Regierungsseite, sondern auch die Aufständischen, mithin »no party in Syria should use, develop, produce, acquire, stockpile, retain, or transfer chemical weapons«. UN-Sicherheits-Resolution 2118 (2013)
Man sieht: Sechs Wochen nach dem Giftgasangriff vom 21.8.2013 ist dieser alles Andere als aufgeklärt. Auch die UN-Inspektoren konnten mit ihrem ersten am 16.9.2013 veröffentlichten Bericht keine Klarheit schaffen – zumal sie keine Täter benennen sollten. Aber warum war das eigentlich nicht Teil ihrer Aufgabe? Der syrische Außenminister die Vorgänge jüngst vor der UN-Vollversammlung so erläutert: „Wir hatten vorgeschlagen, das Mandat der UN-Experten auch durch die Möglichkeit zu erweitern, die Schuldigen zu ermitteln. Aber die USA und andere Länder wie Großbritannien sträubten sich dagegen und ließen die Mission nur feststellen, ob Kampfstoffe eingesetzt wurden oder nicht“ Walid Muallim. Ein interessantes Detail, das das westliche Narrativ („Der Assad war’s!“) nicht gerade stützt. Die westlichen Regierungen sowie die meisten westlichen Medien zeigen nach dem 16.9. wenig Neigung ihr ursprüngliches Narrativ aufzugeben. Unisono erklärten sie, der Inspektorenbericht deckte ihre Sicht der Dinge. Dass ist jedoch falsch.
Blicken wir kurz in den August 2013 zurück. Anders als vor dem Irak-Krieg 2003 übernahm 2013 nicht die britische, sondern die US-amerikanische Regierung die Aufgabe, die „Beweise“ zur Rechtfertigung eines Militärangriffs zusammenzustellen und veröffentlichte am 29.8.2013 ein vierseitiges „Assessment“ . Zentrale Behauptung dabei: „Der Assad war’s.“ Andere westliche Geheimdienste stützten diese Theorie. Anders als 2003, als u.a. die deutsche Regierung Schröder/Fischer ausscherte, waren dieses Mal alle westlichen Akteure „convinced“
Richtung des Raketenangriffs unklar
Für den Tathergang ist wichtig, von wo die Trägerwaffen gestartet wurden. Vergleicht man das US-Dokument mit dem UN-Inspektorenbericht im Detail, ergibt sich ein Widerspruch, der medial geflissentlich übersehen wurde: Während das US-Assessment einen Raketenangriff aus dem Nordosten behauptet (aus dem Ort Adra), ist seitens der Inspektoren von „Nordwesten“ die Rede: „… the rockets are believed to have arrived from northwest.“ (Seite 15). In dieser Richtung liegt der Kassiun-Berg: „Dort befindet sich das Hauptquartier von Assads Elite-Einheit.“ In gleicher Richtung liegt allerdings auch der von Rebellen kontrollierte Stadtteil Barzeh, den bis Ende September 2013 das Regime trotz massiver Versuche noch nicht zurückerobert hatte, wie zahlreiche Rebellen-Videos auf Youtube belegen. Insofern ergibt der Inspektorenhinweis keinen klaren Hinweis für die Täterschaft, zumal die Formulierung „are believed“ doch sehr offen bleibt. Das russische Narrativ ging ebenfalls vom Nordosten aus. Danach hätten die Rebellen Raketen aus dem von ihnen kontrollierten Duma abgefeuert, das auf dem halben Wege zwischen Adra und den Zielorten liegt.
Die ursprünglichen US-„Beweise“ waren zum einen Satellitenbilder. Auch die französische Regierung behauptete, über solches Bildmaterial zu verfügen. Der russische Außenminister Lawrow ist allerdings „not convinced“: »„Das, was uns die amerikanischen sowie die britischen und die französischen Partner sowohl früher als auch in letzter Zeit gezeigt haben, überzeugt uns absolut nicht. Dort gibt es keine Fakten. Wenn wir aber um detailliertere Bestätigungen bitten, sagt man uns: ‚Wissen Sie, das alles ist geheim, deshalb können wir es nicht zeigen.’ Das bedeutet, dass es solche Fakten gar nicht gibt.“« RIA Novosti 2.9.2013
Umgekehrt hatte Russland bereits am 21.8. dem Sicherheitsrat eigene Satellitenbilder vorgelegt, die einen Rebellenangriff belegen sollten, aber von den westlichen Mächten für nicht überzeugend erachtet wurden. (Vergl. z. B. Hans Springstein im FREITAG 26.8.2013)
Unschön: Externe Einflussnahme auf den Inspektorenbericht
Offenbar ist der UN-Inspektorenbericht nicht im stillen Kämmerlein entstanden, sondern es wurden mutmaßlich während bei der Abfassung externe Quellen bemüht, ohne diese zu benennen oder offen zu legen. Sogar einzelne Untersuchungsergebnisse scheinen nach außen gegeben worden zu sein. So fanden einzelne Grafiken, die schon in der New York Times und von HRW veröffentlicht worden waren, Eingang in den Bericht, so dass dieser hinterher eben jene Veröffentlichungen bestätigte („Import von Information“). Als Experte wurde offenbar Igor Sutyagin vom Londoner RUSI (Royal United Services Institute), das der britischen Regierung nahesteht, hinzugezogen. In seiner Video-Präsentation vom 9.September 2013 sind Unterlagen aus dem UN-Inspektorenbericht zu sehen Igor Sutyagin / RUSI 9.9.2013. Und dieser wurde bekanntlich erst eine Woche später veröffentlicht („Export von Information“). Vergleiche hierzu im Detail: Subrata Goshroy
Raketentypen und Sprengköpfe
Während Britannien von 350 und Frankreich von 281 Opfern sprechen, lautet die US-Zahl: 1.429 (darunter 426 Kinder). Da es sich um geheimdienstliche Quellen handelt, sind die Quellen geheim. Die UN-Inspektoren haben sich vorsichtshalber auf keine Zahl festgelegt. Die US-Regierung musste zu ihrer extrem hohen und von anderen Quellen abweichenden Opferzahl eine Taterklärung liefern. Das tat sie zunächst nicht und sprach vage von Raketen- und Artillerieangriffen. Es war die New York Times, die am 4.9.2013 das erste Mal einen Sprengkopf erwähnte, der 50 Liter Sarin enthalten könnte. Zuvor waren die Vermutungen von Sprengköpfen mit 1 oder 2 Litern ausgegangen. Einen Sprengkopf, der eine so große Menge fasst, so die Argumentation, könne nur das Assad-Regime zusammengezimmert haben. Damit hatte die US-Regierung eine plausible Erklärung für die sehr hohe eigene Opferschätzung.
Das sieht Iwanow (Chef der russischen Präsidialverwaltung) allerdings genau andersherum: Ihm »zufolge waren an die betroffene Trägerrakete große Behälter angebracht worden, die Sarin-Spuren aufwiesen. „Das ist ganz eindeutig ein primitives Fabrikat, denn keine einzige Armee in der Welt nutzt derartige Behälter“, betonte er.« RIA Novosti 21.9.2013
Auch die von den Inspektoren vorgefundenen Raketenteile schaffen keine Klarheit.
Ruslan Puchow, Direktor des Moskauer Zentrums für Strategie- und Technologieanalyse, argumentiert so: »Der eine Raketentyp sei schon lange nicht mehr Teil des syrischen Arsenals, der andere sei es noch nie gewesen: „‘Das erste Geschoss lässt sich leicht identifizieren: Es wurde im Bericht als 140mm-Rakete vom Typ ?-14 für den alten sowjetischen Mehrfachraketenwerfer BM-14-17 aus dem Jahr 1952 bezeichnet‘. […] Die syrische Armee habe alle Mehrfachraketenwerfer BM-14-17 schon längst außer Dienst gestellt, auch die Geschosse des Typs ?-14 haben ihre Haltbarkeit seit langem überschritten. […] ‚Das zweite Geschoss vom Kaliber 360 mm stammt offenbar aus einem Eigenbau‘, so der Experte weiter. Er bezweifelte, dass die syrische Armee ‚derart primitive Munition produziert und einsetzt‘“ (RIA Novosti, 17.09.2013)« (zitiert nach: Jürgen Wagner IMI) Durch die Beschriftung auf einem Raketenteil ist eindeutig, dass die aufgefundene M-14-Rakete 1967 (also vor 46 Jahren) in Nowosibirsk hergestellt wurde. Die in Rede stehenden Raketentypen sind seitens der Sowjetunion außer an Syrien auch an Libyen, Jemen und Ägypten geliefert worden. Insofern könnte sich die Rebellenseite, sofern sie Täter wäre, auch aus nicht-syrischen Arsenalen bedient haben.
Abgehörte Telefongespräche
Weitere „Beweise“, die im UN-Inspektorenbericht natürlich nicht vorkommen, sind abgehörte Telefongespräche. Dass insbesondere die US-Geheimdienste so etwas können – das ist unbestritten. Aber bisher wurden die Bänder niemanden vorgespielt, schließlich ist alles geheim. Einen guter Überblick über verschiedene mit- bzw. abgehörte Gespräche, die das eine oder das andere Narrativ belegen (sollen), findet sich bei Jürgen Wagner IMI.
… aber wo ist das Motiv?
Schwäche der westlichen Erzählung ist das fehlende Motiv. Assad wird zwar vehement beschuldigt, nur: warum sollte er den Angriff am 21.8.2013 angeordnet haben? Z.B. meldete Klaus-Dieter Frankenberger in der FAZ (22.8.2013) seine Zweifel an: „Angesichts der Dramatik des Vorgangs fragt man sich, warum Assad Chemiewaffen ausgerechnet jetzt hätte einsetzen sollen, da sich UN-Inspekteure in Syrien aufhalten und die Regierungstruppen nicht auf dem Rückzug sind.“ Insbesondere die US-Regierung hatte bei C-Waffeneinsatz ein Jahr zuvor mit einer Militärintervention gedroht! Warum sollte Assad dafür den Anlass liefern? Dass es bis heute keine US-Luftangriffe auf Damaskus gab und sein Regime aller Beschuldigungen zum Trotz in den letzten Wochen international wieder mehr Anerkennung fand, kann wohl kaum als ernsthaftes Kalkül gelten.
Plausibler wäre eine Variation im westlichen Narrativ: Assad habe den Angriff nicht selbst angeordnet, aber decke jetzt die Täter aus seinen eigenen Reihen. Sonst müsste er eingestehen, dass er den Laden nicht mehr im Griff hätte. In diese Richtung versuchte der deutsche Geheimdienst zu steuern, als er behauptete, seine abgehörten Telefonate belegten, dass Assads Feldkommandeure mehrfach den Einsatz von C-Waffen verlangt hätten, aber Assad hätte stets abgelehnt. Den Einsatz am 21.8. habe er nicht persönlich genehmigt Assad-Offiziere sollen auf Giftgas-Einsatz gedrängt haben, SZ 8.9.2013. Der oben erwähnte Igor Sutyagin brachte am 9.9. die Variante ins Spiel, dass die Hisbollah die Täter sein könnten. Entweder habe Assad ihnen entsprechende C-Waffen übergeben oder sie hätten sie sich anderweitig angeeignet. Als Beleg wird ein Raketenstart angeführt, bei dem Uniformierte mit roten Baretten zu sehen sind. Die entsprechende Kopfbedeckung ist auch bei den Hisbollah-Kämpfern üblich Igor Sutyagin 9.9.2013.
Das Problem wäre jedoch, dass westliche Regierungen dann anders mit Assad umgehen müssten. Plötzlich wäre er gewissermaßen Partner bei der Lösung, weil die Forderung z.B. lauten müsste: Assad sollte die Täter festnehmen und vielleicht noch nach Den Haag ausliefern. Bisher will man aber Assad selbst in Den Haag vor Gericht bringen. Gerade der scheidende deutsche Außenminister Westerwelle macht sich dafür stark.
Das russische Narrativ ist hingegen bezüglich des Motivs absolut plausibel: Die Rebellen hätten mit Hilfe des Giftgaseinsatzes eine westliche Militärintervention herbeiführen wollen. Entsprechend enttäuscht reagierten sie, als diese erst einmal abgesagt wurde. Allerdings ist die Faktenlage auch hierfür nicht wasserdicht. Ein Motiv macht noch keine Tat.
Deutschland lieferte Ausgangsstoffe für C-Waffen an Syrien
Wie die anderen westlichen Regierungen ging auch die deutsche davon aus, dass das Assad-Regime den Giftgaseinsatz zu verantworten hätte. Da war es natürlich ungünstig, dass sich just im September 2013 herausstellte, dass deutsche Firmen mit regierungsamtlicher Genehmigung über Jahre die Ausgangsstoffe für die am 21.8. verwendete C-Waffensubstanz (Sarin) an das Assad-Regime geliefert hatte. „Sowohl die rot-grüne als auch die schwarz-rote Bundesregierung haben zwischen 2002 und 2006 den Export von Chemikalien an Syrien erlaubt, die auch zur Produktion des Giftgases Sarin verwendet werden können.“ tagesschau.de 18.09.2013 Das hatte eine schriftliche Anfrage der Linksfraktion ein paar Tage vor der Bundestagswahl zutage gefördert. Einige Tage später stellte sich heraus, dass die Lieferungen munter bis 2011 weitergegangen waren Jan van Aken 30.09.2013. Verantwortlich waren also die beiden Regierungen Schröder/Fischer und die beiden Regierungen Merkel samt ihrer Koalitionspartner. Die Behauptung, dass die Lieferungen nur zivil verwendet worden seien, kann man glauben, muss man aber nicht. Es war allgemein bekannt, dass Syrien ein Chemiewaffenprogramm unterhielt und der Chemiewaffenkonvention nicht beigetreten war. Und das bedeutet: All die Parteien, die mit hohem moralischen Impetus in den letzten Wochen nach einer „harten Reaktion gegen das Assad-Regime“ wegen des Giftgaseinsatzes vom 21.8.2012 riefen, tragen Mitverantwortung für die Lieferung dieser dual-use-Güter. Auch die GRÜNEN waren Teil einer Regierung, die potentielle Ausgangsstoffe für das syrische Chemiewaffenprogramm geliefert hat. Im Wirtschaftsministerium, das Verantwortung für die Genehmigung der dual-use-Güter trägt, war der GRÜNE Rezzo Schlauch von 2002 bis 2005 Parlamentarischer Staatssekretär. Das schreit nach Aufklärung.
Inwieweit den deutschen Regierungen der letzten 15 Jahre auch die Komplizenschaft für den Giftgaseinsatz vom 21.8.2013 vorgeworfen werden kann, bleibt allerdings unklar: Erstens ist nicht bewiesen, dass die Ausgangsstoffe tatsächlich für das Chemiewaffenprogramm genutzt wurden (Wirtschaftsministerium und Bundeskanzlerin haben das – wie erwähnt – erst einmal bestritten). Zweitens ist, wie dargelegt, keinesfalls bewiesen, dass die am 21.8.13 eingesetzten Chemiewaffen aus syrischen Beständen stammen. Falls die Täter auf Rebellenseite zu finden wären, könnte das Sarin auch aus nicht-syrischen Quellen stammen. Dann ergäbe sich gar kein Zusammenhang – auch wenn die Lieferungen an sich skandalös bleiben.
Deutsche Politik und Faktenlage
Es ist politisch kurzsichtig, dass sich die meisten politischen (Mainstream-)Akteure in Deutschland in Ignoranz der Faktenlage bereits mehr oder weniger auf das Assad-Regime als Täter festgelegt haben. Die Position der Bundesregierung lautet: „Die Indizien deuten klar darauf hin, dass das Assad-Regime die Verantwortung für diesen Tabubruch trägt“ (Westerwelle 18.9.2013). Damit identisch ist die Position der GRÜNEN Bundestagsfraktion: »Der UN-Sicherheitsrat bleibt aufgefordert, sich auf weitgehende Schritte zur Aufklärung des Giftgasangriffes am 21. August zu verständigen. Der damalige Einsatz von Sarin, der allen Indizien zufolge vom Assad-Regime durchgeführt wurde, ist ein grauenvolles Kriegsverbrechen. Es wäre notwendig gewesen, dass der Sicherheitsrat den Internationalen Strafgerichtshof mit Ermittlungen zu den Vorfällen beauftragt.« GRÜNE BUNDESTAGSFRAKTION 28.9.2013
Statt voreiligem Sicherheitsrats-Bashing wäre ein gründlicheres Studium der Faktenlage von Vorteil. 2003 (in Zeiten von Rumsfeld und Bush) war mehr politisches Rückgrat.
Uli Cremer
Hamburg, 2.10.2013