Libyen – gescheiterter Nachbarstaat der EU

von René El Saman (17.7.2014)

Libyen ist heute, 2014, ein gescheiterter Staat, der in vielerlei Hinsicht Afghanistan vergleichbar ist. Es existieren keine nennenswerten staatlichen Strukturen mehr, Stammesmilizen haben das Land in Einflusszonen aufgeteilt, Politiker und andere Zivilisten werden Opfer von Anschlägen, es kommt wiederholt zu Übergriffen auf ethnische Minderheiten, Tausende Menschen werden in irregulären Milizengefängnissen gefangen gehalten. Insgesamt ist die Menschenrechtslage deutlich schlechter als zu Gaddafis Zeiten und der Wohlstand der libyschen Gesellschaft (bis 2011 wies Libyen die niedrigste Armutsrate in Afrika auf) ist zerstört.
All dies sind direkte Folgen des gewaltsamen Umsturzes, der 2011 unter Führung von EU-Staaten herbei geführt wurde. Trotz dieses Umstands und trotz der unmittelbaren Nachbarschaft dieses Landes zur EU wurde Libyen im Europa-Wahlprogramm von Bündnis 90/DIe Grünen nicht behandelt. Ein entsprechender Änderungsantrag wurde auf der BDK im Februar dieses Jahres von mir vorgetragen und von Cem Özdemir zurückgewiesen.

Zu Cem Özdemirs Argumentation, der Libyenkrieg 2011 mit seinen ethnischen Säuberungen und anderen gravierenden Folgen für die Menschen in Libyen und der Region sei gerechtfertigt gewesen, habe ich mich in einem offenen Brief geäußert und angekündigt, auch seine Antwort zugänglich zu machen – was hiermit geschieht.
Er bleibt bei seiner Rechtfertigung des Libyenkrieges, allerdings mit einer bemerkenswerten Änderung seiner Argumentation. Ich halte sie in einigen Punkten für problematisch (so etwa die Darstellung, Zivilisten seien in der Realität von bewaffneten Kämpfern nicht unterscheidbar gewesen, die Verharmlosung ethnischer Säuberungen und zigtausend Kriegstoter als „unangenehme Folgewirkungen“), teile aber die Einsicht, dass wir uns mit den Folgen, die dieser Krieg inner- und außerhalb Libyens hatte, sowie mit seinem Hergang auseinandersetzen müssen.

Derweil spitzt sich die Lage in Libyen weiter zu – bislang noch ohne sich als Thema in der medialen Berichterstattung durchsetzen zu können:  Neben den Gefechten in der ostlibyschen Metropole Misrata wurde bei Kämpfen rivalisierender Milizen der internationale Flughafen in Tripolis weitgehend zerstört. Die Vereinten Nationen haben daher ihr Personal aus dem Land abgezogen. Dass in unmittelbarer Nachbarschaft der EU nun auch Al Qaida-nahe Milizen Fuß fassen, kann niemanden verwundern.


Eine objektive Auseinandersetzung mit dem Libyenkrieg 2011, seinem Hergang und seinen verheerenden Folgen, macht auch eine gewissenhafte Überprüfung des Schutzverantwortungskonzepts notwendig, mit dem Cem Özdemir aber auch viele andere den Libyenkrieg rechtfertigen. Die Libysche Katastrophe 2011 ist zugleich die Katastrophe des Schutzverantwortungskonzepts, dass 2011 zu ethnischen Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt hat, statt sie zu verhindern. 

 

Hier geht es zum offenen Brief an Cem Özdemir vom 13.2.2014:

Offener Brief von René El-Saman an Cem Özdemir vom 13.02.2014

Und dies ist die Antwort von Cem Özdemir (vom 6.Mai 2014):

Lieber René,

vielen Dank für Deine engagierten Worte vom 12. Februar 2014 im Nachklang meiner Rede auf der BDK, als ich Deinen Änderungsantrag zur Libyen-Intervention zurückgewiesen habe. Danke auch für Deine Geduld. Ich schätze die ehrliche Auseinandersetzung und gehe gerne auf Deine Argumente ein, komme aber nach wie vor zu der Auffassung, dass die Libyen-Intervention gerechtfertigt war.

Du verweist auf ein Zitat aus Gaddafis Radioansprache vom März 2011, das ich in meiner Rede genannt habe. Darin drohte Gaddafi: „Wir werden kommen, und es wird keine Gnade geben! Haus um Haus, Gasse um Gasse!“. Du behauptest, dass es sich dabei um eine Drohung handelte, die sich allein gegen die bewaffneten Rebellen, nicht aber gegen die Zivilbevölkerung richtete – und damit ein militärisches Eingreifen der internationalen Gemeinschaft nicht rechtfertige.

Ich komme weiterhin zu einem anderen Schluss. Zwar verspricht Gaddafi in der Ansprache den Einwohnern Benghasis, die ihre Waffen niederlegen, Verschonung, kündigt aber gleichzeitig an, er habe „keine Gnade“ mit denjenigen, die dies nicht tun. Zum Zeitpunkt dieser Rede hatte Gaddafi bereits jegliche Glaubwürdigkeit verloren, und die Realität in Benghasi ließ zudem nicht mehr eindeutig zwischen bewaffneten Rebellen und friedlicher Bevölkerung unterscheiden. Benghasi befand sich bereits unter massiver Bedrohung durch das Gaddafi-Regime. Nach allem, was bereits angerichtet worden war, musste man das Schlimmste befürchten.

Die Proteste gegen das Gaddafi-Regime, die Mitte Februar 2011 begannen, waren inspiriert von den Massenprotesten in Tunesien und Ägypten, welche die dortigen langjährigen Diktatoren zum Rücktritt gezwungen hatten. Waren die Proteste zunächst friedlich, entwickelten sie sich jedoch schnell  zu einem militanten Aufstand gegen das Gaddafi-Regime. Diese Militarisierung erfolgte, nachdem Gaddafis Sicherheitskräfte brutal gegen die friedlichen Protestierenden vorgegangen waren. Innerhalb weniger Tage kam es, laut Human Rights Watch, zu mehr als 200 Toten aufgrund von willkürlichen Tötungen durch die Sicherheitskräfte Gaddafis.

Die Vereinten Nationen reagierten schnell und erstaunlich geschlossen. Bereits am 26. Februar 2011 verurteilte der UN-Sicherheitsrat einstimmig die Gewalt gegen die Zivilisten. Schnell war klar, dass die verabschiedeten Sanktionen die Gräueltaten jedoch nicht würden stoppen können. Denn Gaddafi konterte die militärischen Erfolge der Aufständischen mit zunehmenden Erfolg, und bereits Anfang März, also noch vor der von Dir zitierten Radio-Rede, gewann die libysche Regierung wieder die Oberhand.

Die Drohung gegen die Bewohner von Benghasi nur wenige Tage später scheint vor diesem Hintergrund vollkommen überzogen. Dies schürte die Besorgnis der internationalen Gemeinschaft. Nicht zuletzt wuchs aber die Sorge der internationalen Gemeinschaft, die Einnahme von Benghasi, des Zentrum des Aufstands, könnte brutale Gewalt und Massentötungen bedeuten, auch deshalb, weil Gaddafi eben nicht im kontextfreien Raum agierte. Sein Regime hatte bereits eine lange Geschichte des brutalen Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung hinter sich, die brutale Hinrichtung von 1.200 Insassen eines Gefängnisses in den 1990er Jahren ist nur ein Element davon.

Die Drohung, die Gaddafi in der Radioansprache aussprach, war also nicht nur angesichts der brutalen Niederschlagung der friedlichen Proteste so besorgniserregend, sondern auch in Anbetracht des größeren Kontexts, also der Persönlichkeit Gaddafis und der langen Geschichte seiner mit brutalen Mitteln aufrechterhaltenen Diktatur. Die internationale Sorge um den Schutz der Zivilbevölkerung war also sehr berechtigt.

Als Gaddafi am 17. März 2011 seine Radioansprache hielt, hatte der UN-Sicherheitsrat bereits einen dreitägigen Sitzungsmarathon hinter sich und die Möglichkeit einer internationale Intervention zeichnete sich ab. Selbst wenn der Diktator, wie von Dir behauptet, nur den Rebellen, nicht aber der Zivilbevölkerung gedroht hätte, ist dies vor allem als Reaktion auf die drohende Intervention zu werten. In diesem Falle wäre es dann also darum gegangen, seine aggressiven Pläne zu verschleiern. In diese rhetorische Falle sollten wir nicht tappen!

In Deinem Antrag auf der BDK gehen Du und die MitunterzeichnerInnen leider mit keiner Silbe auf die katastrophale Situation der Zivilbevölkerung unter dem jahrelangen Gaddafi-Regime und die weitere rapide Verschlechterung zum Zeitpunkt der UN-Resolution 1973, die am 17.3.2014 verabschiedet wurde, ein. Die Radioansprache von Gaddafi ist ohne Berücksichtigung dieser Erfahrung der Menschen vor Ort nicht glaubwürdig zu interpretieren.

Zudem berücksichtigt Dein Antrag auch nicht die Geschlossenheit der internationalen Gemeinschaft bei der Reaktion auf die Ereignisse in Libyen. Der Beschluss des UN-Sicherheitsrats, eine Flugverbotszone einzurichten, erfolgte beispielsweise ohne Gegenstimme. Selbst traditionelle Skeptiker von UN-Interventionen, wie China und Russland, stellten sich nicht dagegen.

Zivile Krisenprävention und diplomatische Lösungsstrategien haben für uns stets oberste Priorität in der internationalen Sicherheitspolitik. Meines Erachtens können jedoch Militäreinsätze notwendig werden und legitim sein, um Gewalt einzudämmen und massive Menschenrechtsverletzungen zu stoppen. Unsere Messlatte ist hierfür ein UN-Mandat. Nach den Kriegen auf dem Balkan, vor allem aber nach dem Völkermord in Ruanda, ist die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) ein grünes Kernanliegen. Sie ist eine Errungenschaft des Völkerrechts, die uns Verpflichtung, nicht Last sein sollte. Die Zeit, wo Diktatoren und Massenmörder sagen konnten, dass sie mit „ihrer“ Bevölkerung tun und lassen können, was sie wollen, und die Weltgemeinschaft sich nicht einmischen darf, muss vorbei sein.

Wir Grüne sind eine Partei des Friedens, aber auch der Menschenrechte. Militärische Interventionen fallen uns allen schwer und dürfen nur die Ultima Ratio sein, im Sinne der Schutzverantwortung und mit Legitimation durch ein UN-Mandat.

Dass der Verlauf des Militäreinsatz problematisch war, unangenehme Folgewirkungen außerhalb Libyens zur Folge hatte und in Libyen selbst eine Entwicklung eingetreten ist, die von Stabilität und Rechtsstaatlichkeit leider weiterhin weit entfernt ist, sind Aspekte mit denen und über die wir uns auseinandersetzen müssen.

Dennoch bin ich davon überzeugt, dass die Intervention zu diesem Zeitpunkt die richtige Entscheidung war. Es war wichtig, dass die internationale Gemeinschaft ihre Augen nicht verschlossen hat.

Mit freundlichen Grüßen,
Cem

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