Syrien: Störfeuer gegen Feuerpause und Kerrys Plan B

Uli Cremer (26.2.2016)

Je einiger sich Russland und USA im Syrienkonflikt werden, desto größer werden die Spannungen zwischen Washington und Ankara, das sich immer mehr zu dem Hauptstörfaktor für eine Feuerpause und eine politische Lösung entwickelt. Auch das Verhältnis zwischen oppositionellen Rebellenmilizen und Washington verschlechtert sich. Der von US-Außenminister Kerry am 23.2.2016 ins Gespräch gebrachte Plan B ist vermutlich nicht nur Ausdruck des Misstrauens gegen die Assad-Regierung und Russland sondern auch Reaktion auf das Störfeuer aus dem eigenen Lager.

Publizistisches Sperrfeuer gegen Feuerpause

Kaum hatten sich Kerry und Lawrow auf eine Feuerpause ab 27.2.2016 verständigt, ging das mediale Gezeter los, dass die Einigung die von Russland unterstützte Militäroffensive der Assad-Truppen nicht stoppen würde. Russophobe Reflexe stehen bei den hiesigen Politik- und Medienschaffenden eben derzeit hoch im Kurs. Nehmen wir Richard Herzinger, Korrespondent der Zeitung die WELT:

»Aus der kürzlich in München vereinbarten Waffenruhe in Syrien wurde, wie vorauszusehen war, nichts. Russland und sein Verbündeter Iran machen keine Anstalten, ihre Offensive gegen die Anti-Assad-Rebellen zu bremsen. Diese aber – und nicht die Terrormiliz IS – zu zerschlagen, ist das Ziel der Kriegsachse Moskau-Teheran-Damaskus.

Putins Luftwaffe hat ihr Bombardement Aleppos und anderer Schauplätze in Nordsyrien nach der Münchner Vereinbarung sogar intensiviert. Es ist zu befürchten, dass sich dieses Spiel infolge der jetzt getroffenen neuerlichen Absprache zwischen den USA und Russland für eine Feuerpause ab Samstag wiederholen wird.

Das Zugeständnis, dass Russland trotz Waffenruhe den Al-Qaida-Ableger al-Nusra bombardieren kann, der auch in Aleppo präsent ist, liefert Moskau wie gehabt den Vorwand, die Stadt weiter ins Visier zu nehmen, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Offenbar gezielt werden dabei Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen zerstört.«[1]

Arm in Arm mit der Al Qaida?

Also müsste man Russland eine Vereinbarung abringen mit der Klausel, dass auch die Al Qaida nicht mehr eingegriffen werden dürfte – oder was wäre die Forderung? In der Konsequenz wird Herzinger so zum Bündnispartner und Anwalt der Al Qaida. Auch Andere nahmen schon im Sommer 2015 an den Bündnissen, die die „gemäßigten“ Oppositionsgruppen mit dem syrischen Al Qaida Ableger Al Nusra eingingen (wie im April 2015 bei der Eroberung der Provinzhauptstadt Idlib im Nordwesten) keinen Anstoß. Kristin Helberg, die als „Nahostexpertin“ in der taz und anderswo regelmäßig Syrienkommentare publiziert, schien damals nur die unappetitliche Außenwirkung zu stören, »denn vielerorts brauchen die Rebellen – gemäßigte und islamistische – die militärische Unterstützung der besser ausgestatteten al-Nusra, um die Streitkräfte des Assad-Regimes zu konfrontieren.« Sie bedauerte: »Für den Westen ist und bleibt die Nusra-Front al-Qaida – und damit ein terroristischer Feind. Wer mit ihr zusammenarbeitet, kann keine Hilfe erwarten. Gemeinsame Aktionen mögen aus Rebellensicht lokal notwendig und militärisch erfolgreich sein – für die Außenwirkung sind sie fatal… In Idlib wird sich nun erweisen, ob ein so vielfältiges Rebellenbündnis bestehen kann, wenn die Kämpfe vorbei sind und es darum geht, ein Gebiet zu verwalten. Idlib dient folglich als Versuchslabor mit großer Symbolkraft.«[2] Mit seinem militärischen Eingreifen im September 2015 versucht Russland jedoch dieses Versuchslabor auszuräuchern.

Definition der Terrorgruppen umstritten

Seit Längerem herrscht zwischen Washington und Moskau Konsens über folgende Punkte: Erstens soll der Krieg gegen Terrororganisationen in Syrien weitergeführt werden. Insofern geht es aktuell nur um eine Teil-Feuerpause. Zweitens wird die Al Nusra (als syrische Al Qaida-Filiale), von der sich der IS einst abspaltete, als eine Terrororganisation eingestuft. Diese war schon Anfang Februar von den Genfer Gesprächen ausgeschlossen worden, und die Münchener Waffenstillstandsvereinbarung vom 11.2.2016 betraf die Al Nusra ausdrücklich nicht. Russland durfte und darf diese weiterhin bekämpfen. Im Übrigen haben auch die USA selbst seit 2013 neben dem IS noch andere islamistische Gruppen bombardiert, u.a. die Ahrar al- Scham. Diese charakterisierte die taz im Juli 2015 noch so: Sie »setzt sich für einen islamischen Staat in Syrien ein und will die Scharia einführen. Innerhalb des syrischen Kontexts gilt sie als eine gemäßigtere Alternative zum Islamischen Staat (IS) und der mit al-Qaida verbündeten Nusra-Front, wiewohl diese Gruppen gemeinsame Militäraktionen durchführen. Alle drei Organisationen sind Ziele von US-Luftangriffen.«[3] Und stehen entsprechend auf der US-Terrorliste.

Aber zurück zum erwähnten „Versuchslabor“ in Idlib. Dort »ist die Nusra- Front etwa Teil der islamistischen Rebellenallianz Dschaisch al Fatah, welche die Provinz Idlib kontrolliert.«[4] Natürlich ist die russische Munition nicht intelligent genug, um zwischen den einzelnen Gruppen zu unterscheiden. Im Ergebnis werden alle bombardiert. Als „Kollateralschaden“ werden auch Krankenhäuser und Schulen zerstört, so wie auch bei den Luftangriffen der US-geführten IS-Koalition immer wieder zivile Ziele getroffen werden, am 17.2.2016 z.B. eine Bäckerei[5].

Dissens zwischen Washington und Moskau besteht aber bisher bezüglich der Gruppen, die mit Al Nusra Seite an Seite kämpfen und zusammenarbeiten. Und das ist nicht nur in Idlib der Fall: »Nusra-Brigaden sind an vielen Fronten Teil von Allianzen mit Rebellenbrigaden, die nicht vom UN-Sicherheitsrat als Terrororganisationen geführt werden. Auf dem Schlachtfeld, so heißt es von Diplomaten, dürfte das schwer auseinanderzuhalten sein. Es wäre demnach auch schwer zu prüfen, ob ein etwaiger Luftangriff eine Verletzung der Waffenruhe darstellt.«[6]

Zerwürfnis zwischen US-Regierung und Rebellengruppen

Mittlerweile scheint die US-Regierung jedoch die Geduld mit den islamistischen Gruppen zu verlieren, da mit ihnen im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen ist. US- und russische Regierung beraten nämlich aktuell über die »Festlegung und Erfassung jener Gruppen, die sich von der Nusra-Front distanzieren«[7]. Zugespitzt: Entweder sagen sich diese von der Al Nusra los oder sie werden von Washington fallen gelassen. Insofern könnte Kerrys Plan B, dessen Inhalte bisher nicht bekannt sind und der relevant werden soll, falls der Teil-Feuerpause wieder nicht hält, für diese Gruppen durchaus unangenehme Überraschungen bereit halten – zumal die syrische Kurdenmiliz YPG inzwischen zum Hauptbündnispartner der USA am Boden avanciert ist.

Die diversen Rebellengruppen »fühlen sich von Amerika im Stich gelassen und werfen Washington vor, den Russen zu viele Zugeständnisse zu machen.« Die FAZ zitiert z.B. einen »Leutnant Abu Iskandar al Daher aus der oppositionellen Freien Syrischen Armee, der in dem Ort Azaz im Grenzgebiet zur Türkei im Einsatz ist.« Dieser sagt: »„Es ist schier unmöglich“ … Die Nusra-Front sei in Aleppo präsent, im nördlichen Umland des früheren Wirtschaftszentrums, in der Provinz Idlib, im Umland der Stadt Hama und auch im Umland der Hauptstadt Damaskus. In diesen Regionen, fürchtet er, würden gemäßigte Brigaden es womöglich gar nicht wagen, die Bedingungen für einen Waffenstillstadt zu akzeptieren und sich von den kampfstarken Dschihadisten zu distanzieren – aus Angst vor deren Rache, die womöglich größer sei als die Furcht vor den russischen Jagdbombern.«[8]

Washington als Schutzmacht der syrischen Kurden

Die kurdischen Milizen sind dagegen für Washington unverzichtbarer Partner im Krieg gegen den IS. Dafür nimmt die US-Regierung nicht nur die Verstimmung der verschiedenen Rebellengruppen, sondern auch den Konflikt mit Ankara in Kauf.

Anfang Februar 2016 schickte die US-Regierung den Sondergesandten Brett McGurk zu einem Besuch in die vor einem Jahr von den Volksverteidigungseinheiten (YPG) der syrisch-kurdischen Partei PYD freigekämpfte syrische Grenzstadt Kobanê. »“Wie können wir euch trauen?“, fragte Erdoğan die US-Regierung. „Bin ich euer Partner oder sind es die Terroristen in Kobanê?“ Erdoğan kündigte an, die Türkei werde sich dafür einsetzen, dass die PYD von allen internationalen Organisationen als Terrororganisation anerkannt werden…«[9] Der Sprecher des US-Außenministeriums, John Kirby, bemerkte unbeeindruckt, »anders als die Türkei betrachteten die USA die PYD nicht als Terrororganisation. Kurdische Milizen gingen am effektivsten gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) in Syrien vor und würden von den USA weiter unterstützt.«[10] Also versuchte die Erdogan-Regierung den Selbstmord-Anschlag in Ankara vom 17.02.2016 den syrischen Kurden in die Schuhe zu schieben, obwohl sich eine türkisch-kurdische Splittergruppe (TAK) dazu bekannte. Als sich die US-Regierung von der türkischen Verschwörungstheorie nicht beeindrucken ließ, drohte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu, »den USA die Nutzung der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik wieder zu entziehen. „Es gibt keine Entschuldigung für die Verbindungen der USA zu einer Terrororganisation, die die Türkei angreift“, sagte Ministerpräsident Davutoglu.«[11]

Mit der YPG als Kern wurde auf Drängen der US-Regierung 2015 eine Allianz der „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (Syrian Democratic Forces) formiert. Die wenigen arabischen Milizen sind für die Türkei nur schmückendes Beiwerk, so dass sich die Erdogan-Regierung dadurch von ihrem anti-kurdischen Kurs nicht abbringen ließ.

Die militärische Kooperation der US-Regierung mit der YPG geht inzwischen über die reine Luftunterstützung hinaus. US-Soldaten unterstützen die Kurdenmiliz inzwischen auch auf dem Boden mit Rat und Tat, wie die Washington Post am 25.2.2016 berichtet:

»Shaddadi has been the site of heavy fighting in recent days as a group of Syrian Kurds, known as the YPG, and members of the U.S.-backed Syrian Democratic Forces have fought into the town, backed by U.S. airstrikes and, according to defense officials, U.S. military members on the ground.

A U.S. defense official who spoke on the condition of anonymity to discuss the ongoing operation said that the U.S. military has been backing forces involved in the fight with on-the-ground advising and ammunition.«[12]

Dass sich die USA auf eine längerfristige Partnerschaft und Präsenz einrichten, ist daran erkennbar, dass auf Drängen der USA im syrischen Kurdengebiet ein US-Luftwaffenstützpunkt errichtet wird. Dazu wird der vorhandene Abu Hajar Airport ausgebaut, wie Voice of America berichtet.[13] Nach Fertigstellung wäre die US-Luftwaffe dann natürlich beim Krieg gegen den IS nicht mehr auf den türkischen Militärflughafen Incirlik angewiesen.

Türkisches Artilleriefeuer gegen US-Kurden-Allianz

Der geopolitische Hintergrund ist, dass Ankara aktuell verhindern möchte, dass die kurdischen Milizen die Kontrolle über die gesamte syrisch-türkische Grenze übernehmen und alle kurdischen Kantone miteinander verbinden. Dann hätte die türkische Regierung keine Chance mehr, islamistische Rebellen in Syrien mit Nachschub zu versorgen. Die ausländischen Kämpfer hätten erhebliche Probleme, die Verbände der Al Sham-Miliz, der Al Nusra oder des IS zu erreichen. Verwundete könnten nicht mehr in türkische Hospitäler gebracht werden. Die Gefahr, dass die Kurden den Korridor nach Aleppo abschneiden könnten, ist ganz real, da die kurdischen Milizen die Schwächung der islamistischen Rebellenverbände durch die russisch-syrische Offensive nutzten, um Geländegewinne zu erzielen, u.a. durch die versuchte Einnahme der Stadt Asas samt dem 6 km entfernten Luftwaffenstützpunkt Minnigh.

Das erklärt das direkte türkische Eingreifen auf Seiten der Islamisten. Durch türkischen Artilleriebeschuss wurde die kurdische Offensive zum Stehen gebracht und u.a. der Luftwaffenstützpunkt unbrauchbar gemacht. Da die kurdischen Milizen bekanntlich keine Luftwaffe unterhalten, wäre der Stützpunkt eher für die verbündete US-Luftwaffe interessant, die darüber die Kurden direkt mit Nachschub versorgen könnte. Aber die US-Regierung wollte den Konflikt erst einmal nicht auf die Spitze treiben und forderte die YPG-Milizen auf, ihre Offensivhandlungen einzustellen. Inwieweit tatsächlich schon türkische Soldaten die Grenze überquert haben, ist umstritten. Plausibel erscheint die von der Syrischen Beobachtungsstelle verbreitete Version. Demnach hätten am 17.2.16 »mehr als fünfhundert islamistische Rebellen die Grenze zu Syrien überschritten, um Azaz vor den vorrückenden Kurden zu schützen. Bereits am Sonntag seien 350 bewaffnete Islamisten mit leichten und schweren Waffen über den Grenzübergang Atme von der Türkei nach Syrien eingesickert, ebenfalls mit dem Ziel Azaz.«[14] Inzwischen sollen 2.000 Kämpfer so verlegt worden ein.[15] Auf diese Weise konnten und können die Kämpfer das kurdische kontrollierte Gebiet im Nordwesten umgehen um an den Kampfhandlungen nördlich von Aleppo teilzunehmen.

Der Widerspenstigen Zähmung

Voraussetzung für einen nachhaltigen Erfolg der Teil-Feuerpause ist, dass die USA und Russland ihre jeweilige Klientel disziplinieren. Der russischen Regierung scheint das immerhin zu gelingen. Nachdem Assad am 16.02.2016 klarstellte: »Waffenruhen gibt es zwischen Armeen und Staaten, aber nicht zwischen einem Staat und Terroristen«[16], musste er ein paar Tage später zurückrudern. Die FAZ resümierte: »Moskau hat offenbar auf Assad eingewirkt. Der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin hat zuletzt in der Zeitung „Kommersant“ scharfe Kritik an der Ankündigung Assads geäußert, er wolle ganz Syrien zurückerobern. Assad solle sich an die russischen Anleitungen halten, äußerte Tschurkin, der seinen syrischen Verbündeten auch noch einmal daran erinnerte, dass er seine jüngsten militärischen Erfolge dem russischen Eingreifen zu verdanken habe.«[17]

Die US-Regierung hat offenbar erheblich größere Schwierigkeiten. Grundsätzlich sind selbstverständlich die syrischen Anti-Assad-Kräfte, gruppiert um das von Saudi-Arabien im Dezember 2016 geschmiedete Oppositionsbündnis HNC („Hohes Verhandlungskomitee“), auch für die Feuerpause, bleiben aber misstrauisch und haben gute Ideen für Vorbedingungen. Der Koordinator des Syrischen HNC, Riad Hidschab »sagte, er glaube nicht daran, dass der Diktator Baschar al Assad und seine Verbündeten tatsächlich die Kampfhandlungen einstellen würden. Schließlich hänge das Überleben des Regimes davon ab, dass es weiter unterdrücke, morde und vertreibe. Das Komitee … verlangt unter anderem Garantien dafür, dass Belagerungen von Orten aufgehoben werden, die von den Rebellen kontrolliert werden, dass das Bombardement von Zivilisten eingestellt wird und dass Hilfslieferungen ermöglicht werden.«[18] Ankara begrüßt die Feuerpause ebenso enthusiastisch, behält sich jedoch vor, den Krieg gegen die syrischen Kurdenmilizen fortzusetzen.

Kerrys Plan B: geopolitischer GAU für Ankara

In seiner Verzweiflung brachte deswegen US-Außenminister Kerry einen Plan B ins Gespräch. Der britische Guardian berichtet, dass der Plan die Teilung Syriens vorsähe bzw. in Kauf nähme: »Kerry suggested partition could form part of an eventual solution, saying “this can get a lot uglier and Russia has to be sitting there evaluating that too. It may be too late to keep it as a whole Syria if it is much longer”.«[19]

Grundsätzlich neu ist die Idee nicht, sie wurde schon 2015 in den einschlägigen Denkfabriken erwogen. Der US-Militärpolitiker Michael E. O’Hanlon legte im Juni 2015 ein konkretes Konzept dazu vor. In einem Paper der Brookings Institution, einer den Demokraten nahe stehenden Denkfabrik, plädierte er für einen neuen Ansatz: »The new approach would seek to break the problem down in a number of localized components of the country, pursuing regional stopgap solutions while envisioning ultimately a more confederal Syria made up of autonomous zones rather than being ruled by a strong central government… The strategy would begin by establishing one or two zones in relatively promising locations, such as the Kurdish northeastand perhaps in the country’s south near Jordan…«[20]

Die südliche Region, die an Jordanien grenzt, wird offenbar von Rebellengruppen kontrolliert, die nicht mit der Al Nusra zusammenarbeiten. Diese ist dort nicht vertreten. Den von Al Nusra mitkontrollierten Gebiete wird dagegen keine Perspektive eingeräumt. Das sind offenbar keine „promising locations“.

Politisch am folgenreichsten wäre der kurdische Protostaat im Norden. Dieser würde für Ankara der geopolitische GAU: statt einer türkisch kontrollierten Schutzzone auf syrischen Gebiet entstände eine zusammenhängende Kurdenregion, mit den USA als Schutzmacht im Rücken und vermutlich gebilligt von Russland. Denn vor kurzem hat die PYG, die politische Organisation der syrischen Kurden, in Moskau eine „Ständige Vertretung“ aufgemacht.

Ankara ist also weder für die aktuelle Feuerpause (Plan A), sondern für den aus ihrer Sicht vergifteten Plan B zu haben und wird somit zum Haupthindernis für eine Lösung in Syrien.

Türkei international isoliert?

Nun könnte man denken: Halb so schlimm, denn Ankara sei international isoliert. Aber dem ist nicht so. Abgesehen von arabischen Staaten wie Saudi-Arabien wird die Türkei von der EU und dabei insbesondere von der deutschen Bundesregierung unterstützt. Deutschland ist wichtigster Bündnispartner der Türkei außerhalb der Region.

Als der US-Sondergesandte Kobanê besuchte, packte Kanzlerin Merkel schon ihre Siebensachen für den nächsten Ankara-Besuch am 8.2.2016. Obwohl die türkische Regierung einen neuen Bürgerkrieg gegen die Kurden im Südosten des Landes entfesselt hat, wurden im Januar 2016 türkische Regierungskonsultationen statt. Eine derartig enge Zusammenarbeit pflegt Deutschland natürlich nur mit sehr engen Bündnispartnern und Freunden.

In Tradition des deutschen Kaiserreichs pflegt Deutschland auch heute wieder ein Bündnis mit der Türkei. Das osmanische Reich stieg nach dem Abgang Bismarcks und dem damit verbundenen Bruch mit dem russischen Zarenreich zu DEM deutschen Partner im Osten auf und kämpfte im 1. Weltkrieg an der Seite Deutschlands, das damals nicht nur die Augen vor dem Völkermord an den Armeniern verschloss, sondern in Form von Militärberatern und politischen Funktionsträgern aktiv mitmischte.[21]

Über 100 Jahre später stehen Frankreich und Britannien auf derselben Seite wie Deutschland. Die gesamte EU hat im Herbst 2015 beschlossen, die Türkei mit erst einmal drei Milliarden € zu unterstützen. Dafür soll die Türkei syrische Flüchtlinge an der Flucht in die EU hindern. Solange die Flüchtlingsabwehr oberste Priorität der EU und Deutschlands ist, hält Ankara alle Trümpfe in der Hand: »Merkel … ist die Bittstellerin, sie muss den Türken ein Angebot machen. Die Berliner Verhandlungsposition ist in Wirklichkeit so schwach, dass die Forderung der Opposition, man möge den Türken wegen der Kurden und der Menschenrechte die Leviten lesen, weltfremd ist.«[22]

Cem Özdemirs GRÜNE wertebasierte Realpolitik

Selbst die Qualifizierung des Völkermords an den Armeniern als Völkermord ist offenbar „weltfremd“, so dass dazu bisher kein Bundestagsbeschluss gefasst werden konnte. CDU/CSU und SPD hatten mit den GRÜNEN monatelang verhandelt und sich auf einen Text verständigt, aber die Fraktionsführungen der Regierungsparteien blockierten eine Einbringung im Bundestag. Also setzte die GRÜNE Bundestagsfraktion das Thema am 25.2.2015 auf die Tagesordnung des Bundestags. Cem Özdemir zog bei der Begründung des Antrages richtigerweise die Parallele zwischen 1915 und heute:

»Die Reichsregierung hatte sich für eine Politik entschieden, die man heute wohl als die zynische Variante der Realpolitik bezeichnen würde. Es ging darum, einen Verbündeten, den man dringend brauchte, koste es, was es wolle, bei der Stange zu halten. Wenn man die Zeitungen von heute liest, kommt einem manches davon ziemlich bekannt vor; denn auch aktuell geht es für die Bundesregierung vor allem darum, den türkischen Staatspräsidenten – das Thema von heute ist ein Beispiel dafür – auf keinen Fall zu verärgern… Das Schicksal von Armeniern und von Christen in der Türkei darf nicht mit dem verrechnet werden, was aktuell in der Flüchtlingspolitik geschehen muss.«[23]

Das GRÜNE Vorgehen sei »eine wertegeleitete Realpolitik« – im Gegensatz zu der »zynischen« Realpolitik der Regierungsfraktionen. Nach 30 Minuten Debatte schwenkte Cem Özdemir jedoch auf die Regierungslinie ein und zog den Antrag zurück. Das Argument, 10 Tage vor dem EU-Flüchtlingsgipfel mit der Türkei einen Parlamentsbeschluss zum Völkermord an den Armeniern zu fassen belaste »die diplomatischen Beziehungen zur Türkei«[24], hatte den „wertegeleiteten“ Realpolitiker Özdemir offenbar überzeugt.

Merkel unterstützt Ankaras Syrien-Politik

Auch die türkische Syrienpolitik wird aus Berlin unterstützt: Kanzlerin Merkel sprach sich bereits wiederholt »zumindest für eine Flugverbotszone aus, in der zum Schutz der Flüchtlinge keine Luftangriffe geflogen werden sollte. „Das wäre ein Zeichen des guten Willens“… „Es würde jedenfalls viele, viele Menschen beruhigen, wenn in Aleppo und im Gebiet bis zur Türkei eben niemand mehr umkommen müsste und nicht weitere Menschen sich auf die Flucht machen müssten.“«[25]

Während der türkische Vize-Ministerpräsident Akdogan zuletzt ganz bescheiden »eine etwa zehn Kilometer breite Schutzzone hinter der türkisch-syrischen Grenze«[26] verlangte, wäre Merkels Schutzzone erheblich größer. Der Gebietsstreifen zwischen Aleppo und der türkischen Grenze wäre etwa 50 km breit. Unter den EU-Staaten spielt Deutschland an der Schutzzonenfront nicht nur eine verbale Vorreiterrolle, sondern auch praktisch: Bei ihrem Besuch in Ankara am 8.2.2016 sagte Merkel bereits zu, das deutsche THW zur Unterstützung für die Flüchtlingslager zu schicken. Diese Flüchtlingslager als Protoschutzzone sind für die Türkei ein wichtiger Faustpfand gegen die syrischen Kurden, da damit eine Verbindung der kurdischen Kantone verhindert werden könnte.

Deutsch-türkische Achse als Hindernis für Friedenslösung in Syrien

Die deutsch-türkische Achse arbeitet aktuell reibungslos und ist zu einem Störfaktor bei der Lösung des Syrienkonflikts geworden. Der Beitrag, den Deutschland zur Lösung in Syrien leisten könnte und sollte, besteht deswegen zuallererst darin, die Kumpanei mit Ankara zu beenden. Anderenfalls wird die Erdogan-Regierung noch zu weiteren abenteuerlichen Eskalationsschritten ermutigt, sei es der Einsatz eigener Bodentruppen oder die Sperrung der Dardanellen für russischen Nachschub nach Syrien. Aufkündigung der Kumpanei bedeutet gleichzeitig die Aufgabe gemeinsamer Flüchtlingsabwehrprojekte und den Neustart für eine humane EU-Flüchtlingspolitik. In diesem Zusammenhang war es nicht gerade hilfreich, dass Cem Özdemir am 25.2.2016 den Schulterschluss mit der Regierung praktizierte, als er im Namen der GRÜNEN Bundestagsfraktion den eigenen Antrag zum Völkermord an den Armeniern zurückzog, um 10 Tage vor dem EU-Gipfel mit der Türkei die diplomatischen Beziehungen zu Ankara nicht zu belasten. Was daran „wertebasierte“ Realpolitik ist, bleibt sein Geheimnis.

Uli Cremer
Hamburg, 25.2.2016

[1] http://www.welt.de/debatte/kommentare/article152563843/Kapituliert-der-Westen-vor-Assad-droht-der-grosse-Krieg.html

[2] http://www.taz.de/!5010626/
[3] taz 16.7.2015

[4] „Eine zynische Demonstration der Macht“, FAZ 17.022016

[5] http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-mehrere-menschen-sterben-bei-angriff-auf-baeckerei-a-1077777.html

[6] Christoph Ehrhardt: Nach dem Drehbuch Putins, FAZ 24.2.2016

[7] Christoph Ehrhardt: Nach dem Drehbuch Putins, FAZ 24.2.2016

[8] Ebenda

[9] http://www.sueddeutsche.de/politik/kampf-gegen-den-is-erdoan-usa-muessen-sich-zwischen-tuerkei-und-kurden-entscheiden-1.2853914, gefunden 8.2.2016

[10] http://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-kurden-121.html

[11] Frank Nordhausen: Türkei erkennt Attentäter nicht an, FR 22.2.2016, http://www.fr-online.de/brennpunkt-tuerkei/tuerkei-erdogan-erkennt-attentaeter-nicht-an,23356680,33834998.html

[12] „On the road to retake Raqqa, U.S.-backed forces have surrounded key Syrian town, Pentagon chief says“, Washington Post 25.2.2016, abrufbar:

https://www.washingtonpost.com/news/checkpoint/wp/2016/02/25/on-the-road-to-retake-raqqa-u-s-backed-forces-have-surrounded-key-syrian-town-pentagon-chief-says/?postshare=8481456447872170&tid=ss_tw

[13] http://www.voanews.com/content/us-confirms-involvement-in-syria-airport-expansion/3176116.html

[14] Rainer Herrmann: Ins Herz des türkischen Staats, FAZ 19.02.2016

[15] Kamal Sido: Die Türkei und die Feuerpause, in Telepolis 24.2.2016, http://www.heise.de/tp/artikel/47/47507/1.html

[16] „Eine zynische Demonstration der Macht“, FAZ 17.022016

[17] „Hoffen auf eine Feuerpause – trotz heikler Fragen“, FAZ 22.02.2016

[18] Christoph Ehrhardt: Nach dem Drehbuch Putins, FAZ 24.2.2016

[19] http://www.theguardian.com/world/2016/feb/23/john-kerry-partition-syria-peace-talks?CMP=share_btn_tw

[20] http://www.brookings.edu/~/media/research/files/papers/2015/06/23-syria-strategy-ohanlon/23syriastrategyohanlon.pdf, siehe auch: http://www.imi-online.de/2015/10/28/syrien-teilung/

[21] Vergl. hierzu: Jürgen Gottschlich: Das deutsche Kaiserreich und der Völkermord an den Armeniern, 2015

[22] Nikolas Busse: Schwache Position, FAZ 23.1.2016

[23] Rede Cem Özdemir im Bundestag 25.2.2016, abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/18/18158.pdf

[24] MdB Hans-Peter Uhl von der CDU/CSU, ebenda

[25] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/tuerkei-konkretisiert-schutzzonen-plaene-fuer-syrien-fluechtlinge-14075080.html
[xxvi] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-fordert-schutzzone-fuer-fluechtlingen-in-nordsyrien-a-1077874.html

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