Neue Afghanistan-Strategie 2010: Wieder mehr Truppen!

von Uli Cremer / Wilhelm Achelpöhler

 

Im Januar wurde mit großem Pomp eine „Afghanistan-Konferenz“ in London inszeniert. Regierungsvertreter von 68 Staaten (darunter die internationalen Truppenstellerstaaten, aber auch Vertreter der Großmächte Russland, China Japan und Indien) trafen sich ein weiteres Mal mit ihren afghanischen Verbündeten (in Form der Karzai-Regierung). Als Einlader fungierten die britische Regierung, die UN und die afghanische Regierung. Die Konferenz wurde insbesondere von Britannien und Deutschland initiiert.

Vor vier Jahren, am 31.01.2006, traf sich in London die gleiche Gemeinde und verabschiedete den so genannten „Afghanistan Compact“. Im Bundestagsmandat für den Bundeswehreinsatz in 2006 hieß es dazu: „Darin werden die allgemeinen Entwicklungsgrundsätze für die Wiederaufbaubemühungen in Afghanistan vorgestellt, die Eigenverantwortung Afghanistans für seine Entwicklung festgeschrieben (Afghan ownership) und die umfassende  Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zugesagt. Die internationalen und die afghanischen Wiederaufbaubemühungen werden sich bis 2010 auf folgende Bereiche konzentrieren: Sicherheitsunterstützung,
Regierungsführung, Rechtsstaat und Menschenrechte, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie Drogenbekämpfung als Querschnittsthema.“

2010 geht es laut Auswärtigem Amt um die gleichen Themen: „Auf dem Weg zu mehr afghanischer  Eigenverantwortung sagten die Konferenzteilnehmer sowohl mehr zivile Hilfe als auch einen verstärkten Aufbau der afghanischen Sicherheitsorgane zu. Gleichzeitig verpflichtete sich die afghanische Regierung zu „guter Regierungsführung“.“

Ein Ende des Afghanistan-Krieges ist auch nach der Londoner Konferenz nicht absehbar. Auch wenn in den Medien viel „vom Beginn des Abzugs“ die Rede war, haben die Krieg führenden Akteure bisher keinen Willen erkennen lassen abzuziehen. Weder von Seiten der NATO, der US-Regierung oder auch der deutschen Bundesregierung gibt es ein Enddatum, denn das wäre laut Minister Guttenberg „problematisch“. „Das wäre das Signal: Wir stellen jetzt den Wecker, und wenn dieser geklingelt hat, kann all das zurückgedreht werden, was bis dahin aufgebaut wurde… Wie lange sich der Prozess [des Abzuges] hinauszögern wird, wird eine Frage des erzielten Erfolges sein.“

[1]

Ziel ist also weiterhin, den Krieg zu
Bedingungen zu beenden, die für die eigene Seite günstig
sind.

 

 

 

 

 

 

Von der neuen US-Strategie zur Londoner
Afghanistan-Konferenz

 

 

 

 

US-Präsident Obama hatte nach monatelangen
Beratungen mit US-Experten am 1.12.2009 in West Point die
zukünftige US-Strategie für Afghanistan vorgestellt.

 

 

 

Der neuen Strategie lag eine düstere
Beschreibung der Lage in Afghanistan zu Grunde. Obama stellte
fest, dass nur noch wenig von der Demonstration überlegener
US-amerikanischer Militärmacht des Jahres 2001 übrig geblieben
war, als die Taliban von der Macht in Kabul vertrieben wurden:
“Die Lage in Afghanistan (hat sich) verschlechtert… Das
Land erlitt mehrere Jahre lang Rückschläge…Schritt für
Schritt haben die Taliban begonnen, die Kontrolle über einzelne
Gebiete Afghanistans an sich zu reißen. Obwohl vom afghanischen
Volk eine legitime Regierung gewählt worden war, ist sie
durch Korruption, den Drogenhandel, eine unterentwickelte
Wirtschaft sowie unzureichende Sicherheitskräfte behindert.
Die Führung al-Qaidas (schuf sich) einen sicheren Zufluchtsort
in Pakistan. Afghanistan ist nicht verloren… Es gibt keine
akute Gefahr, dass die Regierung gestürzt wird, wenngleich
die Taliban stärker geworden sind3

 

 

 

 

 

Obama nannte „drei Kernelemente“ der
US-Strategie: „Militärische Maßnahmen, um die Voraussetzungen
für eine Machtübertragung zu schaffen, eine starke Erhöhung
der Anzahl der zivilen Kräfte zur Unterstützung positiver
Maßnahmen und eine effektive Partnerschaft mit Pakistan.“4 Entscheidende und auch finanziell
bedeutsamste Maßnahme war natürlich die Aufstockung um weitere
30.000 US-Soldaten im 1.Halbjahr 2010; diese lag gemäß Obama
„im vitalen nationalen Interesse“. Als Trostpflaster und
gemäß der alten NATO-Logik aus dem Kalten Krieg „Aufrüsten,
um abzurüsten“ kündigte Obama optimistisch an, dass durch
die Maßnahme ab Anfang 2012 ein Truppenrückzug eingeleitet
werden könne: „Nach 18 Monaten wird der Abzug unserer Truppen
und ihre Rückkehr nach Hause beginnen. Das sind die Ressourcen,
die wir brauchen um die Initiative ergreifen zu können,
während wir die afghanischen Kapazitäten aufbauen, die dann
einen verantwortungsvollen Abzug unserer Streitkräfte aus
Afghanistan möglich machen werden.“5


 

 

Nachdem sich die USA also die neue Afghanistan-Strategie
unilateral überlegt hatten und alles entschieden war, tagten
ein paar Tage später die NATO-Verteidigungsminister bzw.
die Minister der Truppen stellenden ISAF-Staaten. Diese
begrüßten die Truppenaufstockung und vollzogen die US-Strategievorgaben
in allen Punkten nach:

 

 

 

 

 

“We strongly welcome President Obama’s
announcement that the United States will provide substantial
additional troops and resources for this purpose. We also
welcome the additional contributions announced recently
and the fact that many other ISAF nations are, or will be
increasing their military and civilian contributions in

Afghanistan…
Enhancing political dialogue and deepening our cooperation
with Pakistan,
in particular, will be a priority.“6

 

 

 

 

Die deutsche
Regierung beschloss
zwar alles mit, wollte aber im Dezember partout noch keine
offizielle Zusage zur Aufstockung des Bundeswehrkontingents
machen. Stattdessen verlängerte der
Bundestag
im Dezember demonstrativ das bisherige ISAF-Mandat.

 

 

 

 

Am 28.Januar 2010 dann
die Londoner Afghanistan-Konferenz. Diese interpretiert
z.B. Sven Hansen von der taz als weitere Runde zur Absegnung
der US-Strategie: „De facto verpflichteten
sich die knapp 60 teilnehmenden Staaten mit der Konferenz
zur Unterstützung der Afghanistanpolitik der US-Regierung
von Barack Obama und seines Generals McChrystal.“
7
Eine Würdigung des Truppenaufwuchses (als Hauptelement der
US- und NATO-Strategie) kommt jedoch im Abschlusskommuniqué
NICHT vor! Gelobt wird die ISAF dafür, dass sie partnerschaftlich
mit der afghanischen Armee zusammenarbeiten, die Ausbildung
afghanischer Sicherheitskräfte forcieren und mehr Rücksicht
auf die Zivilbevölkerung nehmen will. Das Ziel, nach und
nach die Verantwortung für die Sicherheit von der ISAF auf
afghanische Organe zu übertragen wird ebenfalls unterstützt.
Anfang 2011 soll das in ersten Provinzen geschehen sein.
Aber das von Obama und NATO vorgesehene Mittel (mehr Soldaten)
unterstützt die Londoner Konferenz gerade nicht. Das ist
insofern bemerkenswert, als andere militärische Beiträge
wie die Gewährung von Transitrouten, um den Nachschub sicherzustellen,
explizite Erwähnung finden. Offenbar wird die Ausweitung
des Afghanistan-Krieges von Russland, China und Indien nicht
mitgetragen.

 

 

 

 

Vor diesem
Hintergrund ist absurd, dass die Bundesregierung die Londoner
Konferenz am 28.1.2010 als Begründung für die Aufstockung
des Bundeswehrkontingents heranzieht. Der internationale
Aufstockungsbeschluss ist am 4.12.2010 auf dem Treffen der
ISAF-Verteidigungsminister in Brüssel gefallen – mit der
Stimme des deutschen Vertreters (= Guttenberg).

 

 

 

 

 

 

Die
NATO-Agenda 2010: Dosis erhöhen – mehr Truppen

 

 

 

Die NATO-Agenda 2010
für Afghanistan sieht also in den nächsten Monaten eine
weitere massive Aufstockung der westlichen Truppen vor:
Im Sommer werden etwa 150.000 westliche Soldaten am Hindukusch
kämpfen. 2009 waren es erst 110.000. Damit hat der Westen
inzwischen mehr Truppen stationiert als die Sowjetunion
in den 80er Jahren. Und diese kämpfte nicht nur gegen Mudschahedins,
sondern hinter diesen stand nicht zuletzt die Weltmacht
USA, die Geld und Waffen lieferte. Auch einzelne ausländische
Kämpfer unterstützten die „afghanische Sache“, z.B.
kämpfte der gegenwärtige polnische Außenminister Sikorski
1986-89 auf der Mudschadhedin-Seite gegen die Sowjets8.

 

 

 

 

Demgegenüber hat die
NATO bzw. der Westen beim Afghanistan-Krieg eine geradezu
komfortable Position. Denn der Nachfolgestaat der Sowjetunion,
Russland, unterstützt den NATO-Krieg aktiv. Der militärische
Nachschub für die Bundeswehr rollt seit Jahren über russische
Gleise. Auch die USA können seit Sommer 2009 die nördliche
Nachschublinie durch Russland nutzen.

 

 

 

 

 

Obwohl keine feindliche
Großmacht die Aufständischen unterstützt, gerät die NATO
in den letzten Jahren in Afghanistan immer mehr in die Bredouille.
Das internationale Forschungsinstitut Icos, das jedes Jahr
Informationen über die Ausbreitung der afghanischen Aufständischen
veröffentlicht, meldet diese Zahlen: 2007 kontrollierten
die Aufständischen 54% der Provinzen, 2008 waren es 72%
im Jahr 2009 sind gar 80 %9
.

 

 

 

 

 

Norine MacDonald schreibt
im Februar 2010 in der Foreign Affairs10
: „Die militärische Strategie
der Taliban ist erfolgreich gewesen und ihr territorialer
Einfluss ist in der Tat in den letzten Jahren dramatisch
gewachsen, indem sie nun den Süden und Osten dominieren
und ihre Präsenz im Norden zügig verstärken. Die Taliban-Kräfte
haben außerdem Kabul eingekesselt, wie die größeren Angriffe
in der Hauptstadt selbst kürzlich bewiesen haben.“

 

 

 

 

 

Trotz der Rekordzahlen
an Truppen fordern die Krieg führenden Militärs noch mehr
Soldaten. 2007 rechnete der Bundeswehr-General Kasdorf vor:
„Wir haben zu wenige Kräfte und nicht die beste Ausstattung“,
sagte Kasdorf in Kabul. Einige tausend zusätzliche Soldaten
könnten einen großen Unterschied machen. Die Isaf habe schon
jetzt zu wenige Truppen und sei auf jede Unterstützung angewiesen,
sagte er. „Da sind 40.000 Soldaten in der Tat ganz
eng genäht“, kommentierte Kasdorf die derzeitige Isaf-Stärke.
Der General sagte, gemessen am Kosovo-Einsatz müssten in
Afghanistan 800.000 Soldaten stationiert werden.“
11

 

 

 

 

Die aktuelle US-Militärdoktrin
zur Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency/COIN) veranschlagt
„zur erfolgreichen Bekämpfung von Aufständischen … ein
Aufgebot von einer Sicherheitskraft pro 50 Zivilisten. Auf
die Bevölkerung Afghanistans umgerechnet würden 650.000
gut ausgebildete Soldaten und Polizisten benötigt. Selbst
wenn man davon ausgeht, dass nur in ungefähr 50 Prozent
des afghanischen Territoriums Einsätze gegen Aufständische
überhaupt notwendig sind…, werden immer noch 300.000 Sicherheitskräfte
gebraucht.“
12Da die Aufständischen jedoch sogar 80% er Provinzen
kontrollieren, wäre die notwenige Zielzahl 520.000.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der aktuelle ISAF-Kommandeur,
General McChrystal, als praktischer Anwender der Doktrin
bescheidet sich mit einer Größenordnung von 400.00013.
Wie viele Sicherheitskräfte hat er zurzeit real zur Verfügung?
Neben den etwa 150.000 ISAF- und US-Soldaten kämpfen nach
NATO-Angaben 100.130 afghanische Soldaten und 96.800 Polizisten14 auf Seiten des Westens. Zu diesen ca.
350.000 Sicherheitskräften kommen noch die Söldner bzw.
„Mitarbeiter privater Militärdienstleister“ im Auftrag
vor allem der US-Streitkräfte. Laut einer Untersuchung der
US-amerikanischen Congressional Research Centers sind die
Privaten auf 130.000 bis 160.000 Mann zu beziffern15.
In Summe bekämpfen also 480.000 bis 510.000 Sicherheitskräfte
die afghanischen Aufständischen. Insofern hat McChrystal
gemessen an seinen eigenen Vorgaben genügend militärisches
Personal zur Verfügung.

 

 

 

 

Die Sowjets konnten
in den 80er Jahren jedoch auf eine höhere Anzahl afghanischer
Soldaten und Milizen zurückgreifen (458.900 Mann), so dass
sie 1989 mit fast 600.000 afghanischen Sicherheitskräften
und Soldaten der Roten Armee Krieg führte16.

 

 

 

 

Allerdings macht der
NATO die militärische Qualität der afghanischen Truppen
zu schaffen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet
in diesem Zusammenhang im Februar 2010: „Wiederholt kommt
es vor, dass Angehörige der afghanischen Armee für Tage
oder Wochen verschwinden – vor allem im Sommer, wenn die
Ernteansteht. Die Abwesenheitsquote in den Einheiten beträgt
mitunter bis zu 40 Prozent, klagt ein Ausbilder. Als besonders
gravierend beschreibt der Soldat die Korruption in den Sicherheitskräften.
So lasse der Geheimdienst NDS gefangene Taliban gegen Lösegeld
laufen, ‚so dass sie uns auf dem Schlachtfeld schon bald
erneut begegnen‘. Immer bedrohlichere Ausmaße nimmt die
Unterwanderung der Sicherheitskräfte durch Aufständische
an. Anfang Februar erschoss in einer Polizeistation in Mazar-i-Sharif
ein Taliban in Polizeiuniform zwei schwedische Isaf-Soldaten.“
17

 

 

 

 

 

Londoner
Konferenz als „Neuansatz für Afghanistan“

 

 

 

Die deutschen Bundesregierung behauptet
in ihrem Bundestagsantrag vom 11.2.2010 in London habe die
„internationale Staatengemeinschaft… einen Neuansatz für
Afghanistan beschlossen, der unter dem Leitmotiv der ‚Übergabe
in Verantwortung’ steht.“ Dies wird von den Fakten nicht
gestützt. Im Wesentlichen recycelte die Konferenz Aktionsvorschläge,
die seit Jahren in Afghanistan verfolgt werden.

 

 

 

 

 

Auch
das medial stark beachtete Aussteigerprogramm für die Taliban-„Mitläufer“
ist prinzipiell nicht neu. Die Grundidee: „Durch die international
finanzierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sollen sie vom Schlachtfeld
gelockt werden
18Dafür
sollen 360 Mio. € zur Verfügung stehen. In Deutschland hat
Außenminister Westerwelle sich die Idee sehr stark zu Eigen
gemacht, 50 Mio. € aus Deutschland zugesagt und entsprechende
Häme auf sich gezogen („Abwrackprämie für Taliban“). Insbesondere
britische Militärs diskutieren die orginelle Idee schon
länger und haben erste praktische Erfahrungen zu bieten.
Ein Generalmajor Paul Newton wird so zitiert: “Die beste
Waffe bei Aufstandsbekämpfung ist, nicht zu schießen. In
anderen Worten: Verwende kurzfristig Taschen voller Gold,
um die Sicherheitsdynamiken zu verändern. Aber Du beschmeißt
sie nicht einfach mit Gold, das muss sinnvoll gemacht werden.“19

Adam Holloway, ein früherer Armeeoffizier und konservativer
Parlamentsabgeordneter: “Ich weiß, dass eine Anzahl Generäle
in 2006 dachten, es sei besser, Leute in den Stammesgebieten
rauszukaufen, als eine britische Brigade nach Helmand zu
schicken. Jetzt ist es zu spät.”
20
Im Oktober stellte die US-Regierung aus dem 1,3 Mrd $ umfassenden
“Commander’s Emergency Response Program” Mittel zur Verfügung,
um jene, die den Kampf aufgeben in die afghanische Gesellschaft
zu integrieren.
21
Fakt ist allerdings, dass die Idee in London das erste Mal
größere internationale Unterstützung erfuhr
.

 

 

 

 

Eher in einem Nebensatz
deutet die Abschlusserklärung der Londoner Konferenz das
Elend der Menschen in Afghanistan an: “Die Konferenzparteien
wissen um den Ernst der humanitären Lage in verschiedenen
Teilen des Landes, insbesondere die unsichere Ernährungslage.
Die Konferenzparteien ersuchten die internationale Gemeinschaft
um Unterstützung des Humanitären Aktionsplans 2010.”22
Wenige Wochen vor der Konferenz konnte man in der medizinischen
Fachzeitung The Lancet23 einen Aufsatz mit folgenden Zahlen lesen:
25 mal so viele Menschen Sterben in Afghanistan an Armut
und Unterernährung, als an den Folgen des Konflikts, 35
% der Haushalte verfügen nicht über ausreichend Nahrung,
die Hälfte aller Kinder unter sechs Jahren ist unterernährt,
300.000 Kinder sterben jedes Jahr an Unterernährung oder
Krankheiten, wobei der Hunger Krankheiten begünstigt. Der
Autor Samuel Loewenberg verweist auf das tatsächliche Verhältnis
von militärischer und ziviler Hilfe: Nur 1% der Mittel,
die die USA für den militärischen Einsatz verwenden, setzen
sie für die Förderung der Landwirtschaft und damit die Sicherung
der Lebensgrundlagen der Menschen ein.

 

 

 

  

 

 

Die Aufstockung der
zivilen Hilfe, die in London durchaus gewürdigt wurde, kann
bei Kriegseinsätzen nicht isoliert betrachtet werden. Nicht
umsonst widmet die NATO in Afghanistan der zivil-militärischen
Zusammenarbeit besondere Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang
bedauerte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen jüngst
auf der Münchener Sicherheitskonferenz, dass in Afghanistan
nach wie vor viele zivile Organisationen zu wenig Bereitschaft
an den Tag legen würden, mit dem Militär zu kooperieren.
Deswegen las er ihnen gründlich die Leviten: „Sie planen
nicht zusammen, sie arbeiten nicht zusammen, sie meiden
das Militär, um ihre Unabhängigkeit zu betonen. Ein Ende
dieser Zersplitterung erfordert eine wirkliche Kulturrevolution,
die mit herkömmlichem Denken bricht.“24 Die Resultate einer Strategie der Vernetzten
Sicherheit hat der der Politikwissenschaftler Conrad Schetter25
wie folgt beschrieben: Entwicklungsorganisationen werden
nun Teil der Intervention, ohne sich dessen erwehren zu
können, weil sie von staatlichen Finanzmitteln abhängig
sind, und werden als solche wahrgenommen. Es geht nicht
darum, “die Lebensbedingungen der am meisten betroffenen
Bevölkerungsgruppen zu verbessern, vielmehr richtet sich
Unterstützung zunächst an jene, die für die Sicherheit der
zivilen und militärischen Interventionskräfte von größtem
Belang sind” also örtliche Machthaber und schließlich verfolgt
zivil-militärische Zusammenarbeit nicht in erster Linie
humanitäre Ziele, sondern will die Bevölkerung beeinflussen
und die Informationsgewinnung erleichtern.

 

 

 

 

 

 

Der Einsatz von Entwicklungshilfe
in Afghanistan wurde übrigens bereits vor 2001 erfunden:
„Moskau hatte während der Besatzung mit Entwicklungsprojekten
versucht, die Herzen der Afghanen zu gewinnen.“

[2]

 

 

 

 

 

 

 

 

Der
Sieg der Realpolitik: einfach die Ziele ändern

 

 

 

Mit Obama hat die Realpolitik
sich im Weißen Haus durchgesetzt. Die idealistische Regime
Change Herangehensweise der Ära Bush ist nicht länger angesagt.
Obama hatte bereits am 27.3.2009 die Ziele in Afghanistan
neu und bescheidener definiert: „Ich möchte, dass die Amerikaner
verstehen, dass wir ein klares und scharf umrissenes Ziel
haben: die Al Kaida in Pakistan und Afghanistan zu behindern,
zu zerschlagen und zu besiegen und ihre Rückkehr in beide
Länder in Zukunft zu verhindern. Dieses Ziel muss erreicht
werden.“26
Genau das definierte er am 1.12.2009 in seiner West Point
Rede als
„oberstes
Ziel“:
„al-Qaida in Afghanistan und
Pakistan zu stören, zu zerschlagen und zu vernichten, und
zu verhindern, dass es in Zukunft Amerika und unsere Verbündeten
bedrohen kann… Wir müssen al-Qaida einen sichereren Zufluchtsort
verweigern. Wir müssen die Schlagkraft der Taliban reduzieren
und ihnen die Fähigkeit nehmen, die Regierung zu stürzen.
Und wir müssen die Kapazitäten der afghanischen Sicherheitskräfte
und Regierung stärken, so dass sie federführend die Verantwortung
für die Zukunft Afghanistans übernehmen können.“2
7Menschenrechte und Mädchenschulen
kamen in seiner Rede nicht vor.

 

 

 

 

 

In Deutschland betreibt
an erster Stelle Minister Guttenberg die Wende zur Realpolitik
in Afghanistan. Nach seiner Definition heißt „Erfolg in
Afghanistan… nicht, eine Demokratie nach westlichem Muster
herzustellen.“28
Und: „Man wird dort nie eine Westminster-Demokratie nach
Idealvorstellungen herstellen… Ohne zynisch zu werden:
Gewisse Dinge werden sich nicht erreichen lassen. Das anzuerkennen
fällt uns allen … schwer, weil wir gerne die reine Lehre
definieren.“29 Am 12.2.2010 wird er in einer Phönix-Sendung
noch deutlicher: Es sei Ziel des deutschen Engagements,
dass Afghanistan kein Rückzugsgebiet für Terroristen sei
und fügt hinzu, „es sei selbstkritisch (zu) sagen: Haben
wir nicht Gründe nachgeschoben, um in schwierigen Momenten
auch mal eine Anerkennung unserer Bevölkerung zu bekommen?
Natürlich ist es unbestreitbar wichtig, dass man Kindern
hilft, dass man Frauen hilft in ihren Rechten und all jenen.
… Aber das waren Gründe, die nachgeschoben wurden.“30Da ist es nur konsequent,
dass in dem aktuellen Antrag der Bundesregierung zur Ausweitung
des Afghanistan-Krieges das Thema „Menschenrechte“ nicht
mehr vorkommt.

 

 

 

 

 

Ziel des Westens in
Afghanistan ist jetzt, die Aufständischen auf dem Schlachtfeld
so zu schwächen, dass eine günstige Verhandlungsposition
für die Karsai-Regierung bei den Gesprächen mit den Taliban
erreicht wird. Denn – das wusste Obama schon vor einem Jahr
– gewinnen lässt sich der Afghanistan-Krieg nicht. Das Kriegsziel
reduziert sich darauf, dass die Welt von Afghanistan aus
in Ruhe gelassen wird. Oder um den deutschen Verteidgungsminister
zu zitieren: “Jetzt mag man mir
Zynismus vorwerfen, aber wir müssen diese Zielsetzungen
auf ein realistisches Maß herunterschrauben, um überhaupt
über einen Erfolg sprechen zu können.”31

 

 

 

 

 

Zwar sind die Ziele
abgespeckt, dennoch erfordern sie aus Sicht der NATO-Staaten
eine erhebliche Truppenaufstockung. Zu dieser trägt Deutschland
mit 850 Soldaten bei. Die ehemaligen Regierungsparteien
SPD und GRÜNE zeigen angesichts der fehlenden Unterstützung
für den Krieg in der Bevölkerung erste Absatzbewegungen,
aber tragen den Kriegseinsatz mehrheitlich grundsätzlich
weiter mit – auch wenn immer mehr ihrer Abgeordneten den
Regierungsanträgen nicht mehr zustimmen. Unterm Strich ist
die SPD mit dem konkreten Abzugsdatum 2015 inhaltlich weiter
als die GRÜNE Partei, die auf ihrem Rostocker Parteitag
im Oktober 2009 noch ausdrücklich bekräftigte: „Ein verantwortlicher
Abzug braucht Zeit und eine gründliche Vorbereitung. Das
geht nicht in wenigen Monaten. Ein Sofortabzug […]  wäre ein Brandbeschleuniger sondergleichen…“
Deswegen blieb man hübsch unverbindlich: „Im Rahmen einer
zivilen Aufbauoffensive muss aber auch der schrittweise
Abzug der internationalen Truppen in die Wege geleitet werden.
Dies wollen wir in der jetzt beginnenden Legislaturperiode
2009 bis 2013 tun.“

[3]

Wann der Abzug beendet sein könnte, wird
nicht verraten.

 

 

 

 

 

Ob militärische Kalkül
der NATO aufgeht, wird sich zeigen. Klar ist aber, dass
die zusätzlichen Soldaten nicht zum Kämpfen nach Afghanistan
geschickt werden. Die Opferzahlen werden weiter steigen,
bei den westlichen Truppen, bei den Aufständischen und bei
der Zivilbevölkerung. Auch die veränderte militärische Taktik
der westlichen Truppen (weniger Luftangriffe, raus aus den
Camps und mehr Militäroffensiven) wird immer wieder zivile
Opfer fordern. Das hat sich gerade im Februar bei der NATO-Operation
in Helmand gezeigt. Gerade im Norden werden die Kämpfe zunehmen,
denn ein erheblicher Teil des ISAF-Nachschubs erfolgt inzwischen
über die Nordroute. Deswegen sind jetzt 5.000 US-Soldaten
dem Bundeswehr-Kommando im Norden zugeteilt worden. Im Moment
werden zwar noch die Nebelkerzen gezündet, dass mehr Truppen
= mehr Ausbildung afghanischer Kräfte, also weniger Kampfeinsatz
bedeuten würde. Ein Gutachten der SWP gibt jedoch zu bedenken:
„Eine Unterscheidung von Kampf- und Ausbildungstruppen ist…
schwierig.“32 US-Senator McCain, ein Kenner der Kriegsmaterie,
prognostiziert: „Wir werden ein hartes Jahr 2010 haben –
das härteste bisher… Das müssen wir unseren Alliierten
sagen: Wir werden mehr Verluste haben.“33

 

 

In den ersten zwei Monaten 2010 hat
sich die Prognose schon bestätigt: Gegenüber dem Vorjahreszeitraum
verdoppelte sich die Zahl der gefallenen westlichen Soldaten
von 49 in 2009 auf 91

[4]

in 2010. Auf das Gesamtjahr bezogen müsste
entsprechend mit über 1.000 Gefallenen auf westlicher Seite
gerechnet werden.

 

 

 

 

Hamburg/Münster 23.02.2010

 

 

 

 

 

www.gruene-friedensinitiative.de

 

 

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Wilhelm Achelpöhler 0171 / 17 17 392

 

achelpoehler@gruene-friedensinitiative.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 


[1]

Interview in: DIE ZEIT 28.1.2010 „Das
ist noch mal eine echte Chance“

 

 

[2]

FAZ 6.2.2010, „Schwimmen ohne Wasser“

 

 

[3]

http://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/BDK09/BDK_Rostock_Final/F%C3%BCr_eine_verantwortliche_Afghanistanpolitik.pdf

 

 

[4]

91 waren es bereits am 22.2.2010, Quelle:
http://icasualties.org/OEF/index.aspx

 

 

 

 


1http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Afghanistan/bt-mandat2006.pdf

 

 

2 http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/AfghanistanZentralasien/AktuelleArtikel/100128-afghanistankonferenz-london-cntd,navCtx=21914.html

 

 

3http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/obama-afgh-dt.html

 

 

4 http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/obama-afgh-dt.html

 

 

5 Ebenda

 

 

6 http://www.nato.int/cps/en/natolive/news_59701.htm

 

 

7 Hansen,
Sven: Und täglich grüsst das Murmeltier, in http://www.taz.de,
29.01.2010

 

 

 

9 http://www.icosgroup.net/

 

 

10 Norine MacDonald: Is Operation Moshtarak a fool’s mission? – http://afpak.foreignpolicy.com/posts/2010/02/08/is_operation_moshtarak_a_fool_s_mission – gefunden 17.02.2010

 

 

11http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID7019792_TYP6_THE6760856_NAV_REF1_BAB,00.html

 

 

12 Stephen
Biddle: Kein Abzug aus Afghanistan, IP Juli/August 2009,
S.94

 

 

13
Stanley McChrystal: Commander’s Initial Assessment
30 August 2009, Annex G: Afghan National Security Force
(ANSF) Growth and Acceleration, Page G-1; INK“http://media.washingtonpost.com/wp-srv/politics/documents/Assessment_Redacted_092109.pdf“http://media.washingtonpost.com/wp-srv/politics/documents/Assessment_Redacted_092109.pdf
– gefunden 4.10.2009

 

 

14 NATO-Angabe
laut: http://www.nato.int/isaf/docu/epub/pdf/placemat.pdf
– gefunden 4.10.2009

 

 

15 zitiert
nach: Marie-Dominique Charlier: Blackwater und Konsorten,
in: Le Monde diplomatique, Februar 2010, S.17

 

 

16 Lühr
Henken: USA und NATO: „Auf der ganzen Linie gescheitert“,
http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Afghanistan/henken2.html

 

 

17 Marco
Seliger: Rotwein für die afghanischen Kameraden, FAZ 16.02.2010,
S.3

 

 

18http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,674678,00.html

 

 

 

20
Ebenda

 

 

21New York Times 27.11.2009
http://www.nytimes.com/2009/11/28/world/asia/28militias.html?scp=1&sq=defense%20appropriations%20bill%20taliban&st=cse

 

 

22.http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/AfghanistanZentralasien/AktuelleArtikel/100128-communique.pdf

 

 

23. www.thelancet.com
Vol 374 October 31, 2009

 

 

24 zitiert
nach: Jürgen Wagner: “Alle Jahre wieder: Säbelrasseln
auf der Münchener Sicherheitskonferenz http://www.imi-online.de/2010.php?id=2074

 

 

25.Schetter
“Militärische Intervention: Humanität oder Durchsetzung
von Eigeninteressen?” in: Chiari/Pahl Auslandseinsätze
der Bundeswehr (Im Auftrag des Militärgeschichtlichen
Forschungsamtes) S. 207f

 

 

http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/meuaedbwwww.pdf

 

 

 

27 http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/obama-afgh-dt.html

 

 

28 Guttenberg
im FAZ-Interview 25.01.2010 „Afghanische Sicherheitskräfte
in der Fläche ausbilden“

 

 

29 Interview
in: DIE ZEIT 28.1.2010 „Das ist noch mal eine echte Chance“

 

 

30 Phönix-Sendung:“66.
FORUM PARISER PLATZ Deutschland im Krieg? – Die Bundeswehr
im Auslandseinsatz”, zitiert nach: http://blog.gruene-friedensinitiative.de/

 

 

31Vgl
Fn 30

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2010/02/12/drk_20100212_1907_a3249873.mp3

 

 

32 SWP
Aktuell 8, Januar 2010

 

 

33 FAZ
8.2.2010 „McCain: 2010 wird das bisher härteste Jahr in
Afghanistan“

 

 

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